Unser Autor erfüllte sich im Ruhestand einen Lebenstraum – und knatterte gemütlich auf einer Harley-Davidson 5600 Kilometer weit quer durch die USA. Ein Gefühl der Unabhängigkeit zwischen Woodstock und Los Angeles, zwischen Euphorie und Rückenschmerzen

Nur Dolores war in unserer Gruppe mit 75 Jahren noch älter. Aber welches Alter könnte zünftiger sein, als mit ausgerechnet 66 Jahren die „Route 66“ zu fahren, jene berühmte Straße, mit der die Amerikaner einst erstmals durchgängig ihre Ostküste mit der Westküste verbanden? So bin ich also von Berlin in die USA gereist, weil es mein Lebenstraum war, mit einer echten Harley-Davidson durch die fantastischen Landschaften und Stimmungen Amerikas zu „cruisen“ und damit dem in vielen Filmen und Büchern beschriebenen Lebensgefühl näherzukommen. Im fortgeschrittenen Alter ist das allerdings keine Spazierfahrt: 5600 Kilometer in 15 Tagen bei Temperaturen von 40° C und teilweise extrem hoher Luftfeuchtigkeit wollen erst einmal unter die Räder gebracht werden.

Im Städtchen Woodstock, wo einst „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gedreht wurde, bekam unsere 33-köpfige Reisegruppe die so gut wie nagelneuen Maschinen ausgehändigt. Schwer zu sagen, was mehr glänzte: das Chrom der Harleys oder die Augen von uns Bikern. Ich hatte mich für eine „Electra Glide“ entschieden, ein schweres Modell mit Beinschutz, ausreichend Platz für das Gepäck und vier Lautsprecherboxen, damit der Wind die Biker-Mucke nicht davonweht. Gespart hatte ich dafür am Helm: Ein klassischer Halbhelm ohne Visier schien mir nicht nur dem Anlass angemessen, sondern erwies sich angesichts der heißen Temperaturen auch als viel luftiger. Doch wetterbedingte Irritationen traten spätestens dann in den Hintergrund, als der Veranstalter uns ins Harley-Davidson-Museum in Milwaukee führte, dem Ziel unserer ersten Etappe. In riesigen beweglichen Gestellen lagern hier Motorräder aus 100 Jahren. Die richtige Einstimmung.

Nur noch Teilstücke befahrbar

Weit mehr noch als der Autor erwies sich schließlich die Route 66 selbst als ganz schön in die Jahre gekommen. Streng genommen existiert sie sogar gar nicht mehr, denn 1985 wurde sie endgültig durch neue Autobahnen ersetzt. Vor allem dem Engagement von Fans und Nostalgikern ist es zu verdanken, dass einzelne Teilstücke weiter befahrbar sind und teilweise sogar wieder hergerichtet wurden und werden. Im vergleichsweise geschichtsarmen Nordamerika ist die Straße geradezu ein Monument. Das erste McDonald’s-Restaurant öffnete hier im Jahr 1940, John Steinbeck ließ auf der „Mother Road“ seine „Früchte des Zorns“ spielen, hier standen die erste Tankstelle und das erste Motel der Vereinigten Staaten. Und die Kraft der Vergangenheit reicht bis in die Gegenwart, denn diese Straße gilt unverändert als Symbol für Freiheit, Abenteuer und Aufbruchstimmung.

Auch wenn der Rücken sich immer mal wieder protestierend meldete, war das entspannte Gleiten über das historische Pflaster ein pures Glücksgefühl. Dafür scheint das Wort „cruisen“ – kreuzen – geradezu erfunden worden. Wie ein Segler ist man unterwegs, um auf anderen Wegen als der funktionalen Geraden voranzukommen. Man schwebt mehr, als dass man fährt, die Sinne werden intensiver, man atmet die weite Landschaft förmlich ein.

Auf einer Harley geht es nicht um Geschwindigkeit und Windschnittigkeit, hier ist der Weg das Ziel. Dieser Weg führte uns vorbei am 190 Meter hohen Gateway Arch in St. Louis zu den Meramac-Tropfsteinhöhlen und vorbei an flächendeckend vertrockneten Weizenfeldern, Letzteres ein trauriger Anblick, der sich mir tief in die Erinnerung grub. In Clinton wartete das Route-66-Museum und ein Abend in der „Big Steak Ranch“, wo derjenige nicht bezahlen muss, der es in einer Stunde schafft, ein Zwei-Kilo-Steak zu vertilgen. Einer aus der Gruppe wagte sich auf das Podium, um glorreich zu scheitern, während wir anderen lieber Bier und mitgebrachten Zigarren zusprachen, die uns Lagerfeuer und Friedenspfeife gleichzeitig ersetzten. Viele Meilen der Tour führten uns durch Indianergebiet, wo Nachfahren der Ureinwohner unter teilweise unwürdigen Bedingungen leben. Schwer verständlich im Übrigen, denn das schlechte Gewissen der heutigen Herren des Landes sorgt dafür, dass weiter hohe Entschädigungen an die Urbevölkerung gezahlt werden.

Zur Halbzeit unserer Tour erreichten wir am Abend das Hotel „El Rancho“ in Gallup, dessen Glanzzeiten zwar vorbei sind, wo aber die Geschichte fast greifbar im Raum hängt. John Wayne hat hier genächtigt, ebenso Doris Day, Kirk Douglas und Ronald Reagan.

So authentisch historisch wirkt es hier, dass man geneigt ist zu glauben, einer der berühmten Schauspieler könnte im nächsten Moment die Treppe herunterkommen. Die Visionen einer in vielen Westernfilmen gespeicherten parallelen Wirklichkeit am Monument Valley wurden noch intensiver. Hier ist typisches Cowboyland, unendliche Weiten ohne Menschen und Gebäude. Am Ende des Tages waren wir elf Stunden unterwegs, und inzwischen machte sich auch mein angeschlagener Rücken deutlich bemerkbar. So gut die Motorräder auch gefedert sind, in der Harley-typischen aufrechten Sitzhaltung schlägt jede Bodenwelle auf die Rückenwirbel durch. Manchmal war es nach der Fahrt gar nicht so einfach, zum aufrechten Gang zurückzufinden.

Ein paar Abstecher müssen sein

Der Originalverlauf der Route 66 wurde von uns nicht sklavisch getreu abgefahren. Immer wieder leisteten wir uns Abstecher zu Naturdenkmälern oder Orten, die man gesehen haben muss. Dazu gehören etwa der Petrified Forest (Versteinerter Wald) und die Painted Desert (Farbige Wüste). Man muss schon nahe herangehen, um zu erkennen, dass hier nicht die Reste eines echten Waldes auf ihre Verwitterung warten, sondern tatsächlich Steine für die Ewigkeit aufgeschichtet sind. Allerdings sind hier nur noch die großen Stücke liegen geblieben, die kleineren werden im Souvenirshop teuer verkauft. In Winslow, Arizona, erreichten wir dann sozusagen das Mekka der Routenfahrer. Hier ist das große 66-Logo in die Straßenkreuzung eingelassen: ein klassisches Fotomotiv für Rutengänger wie uns.

Wem das Wummern, andere würden sagen: der Lärm, unserer 33 Maschinen noch nicht laut genug gewesen war, der hatte am Grand Canyon in Arizona die Gelegenheit, per Hubschrauber dieses Naturwunder zu besichtigen. Für uns alle bedeutete dieser elfte Tag der Tour aber einen entschiedenen Wendepunkt: Endlich war diese elende Luftfeuchtigkeit verschwunden. Die bloße Hitze konnte man nun als „schönes Wetter“ durchgehen lassen.

Ganz entspannt trafen wir uns am Abend im Örtchen Seligman in „Lilo’s Cafe“. Die gebürtige Deutsche Lilo veranstaltete eigens für uns einen deutschen Abend, allerdings mit amerikanischer Musik. Als dann einer unserer Bikerkollegen, im normalen Leben Berufsmusiker in Argentinien, selbst zur Klampfe griff, gab es kein Halten mehr.

Der ganze Ort Seligman lebt vom Nostalgietourismus. Souvenirläden, wiedererrichtete Gebäude und viel Symbolträchtiges ballen sich hier. Selbst der Prominentenbarbier, der schon seit vielen Jahrzehnten alles, was Rang und Namen hat, um seinen Bart bringt, ist immer noch aktiv. Hier ist alles Route 66. Und hier wurde mir bewusst, warum ich eigentlich auf dieser Straße unterwegs war, denn hier lebt der Geist einer romantischen Vergangenheit weiter, nach dem ich mich gesehnt hatte.

Der größte vorstellbare Kontrast zu dieser Idylle erwartete uns am nächsten Tag. In Formationsfahrt donnerten wir den „Strip“ von Las Vegas entlang. Statt Wildwest-Gefühlen blitzt hier die neue Zeit aus allen Winkeln. Diese Stadt kann man nur lieben oder hassen. Die Fülle der optischen Reize war für mich nur schwer zu bewältigen, trotzdem strahlt diese Stadt eine Faszination aus, die auf der Welt einzigartig sein dürfte.

Ab durch die Wüste

Gegen Ende dieser langen und ereignisreichen Reise wartete mit der Etappe durch die Wüste nach Kalifornien der schönste Abschnitt der ganzen Strecke – inklusive Abstecher zur Geisterstadt Calico in der Mojave-Wüste. Liebevoll ist der an einer alten Silbermine gelegene Ort zu einer „original“ Westernstadt rekonstruiert worden. Disney World einmal anders. In Kalifornien schließlich lohnte ein Abstecher nach San Diego mit der atemberaubenden Coronado Bridge und dem „Hotel Del Coronado“, das spätestens durch „Manche mögen’s heiß“ mit Marilyn Monroe bekannt wurde. Dass der Film eigentlich in Florida spielt, hat an diesem Popularitätsschub nicht viel geändert. Das Domizil unzähliger Millionäre hat heute trotz neuer Poollandschaft, Fressmeile, Shops und schlechtem Service kaum an Flair und Geschichtsträchtigkeit eingebüßt.

Unsere Reise endete, wie so eine Reise enden muss: zünftig. In Santa Monica, der Badewanne von Los Angeles, wurde die „Will Rogers Highway Dedication Plaque“ in das Straßenpflaster eingelassen, um das Ende der Route 66 zu markieren, die nach dem berühmten Schauspieler und Komiker auch Will-Rogers-Highway genannt wird. Nachdem die Berliner Fahne auf allen 5600 Kilometern dieser Fahrt durch eine andere Welt hinter mir geflattert hatte, hisste ich sie nun hier am Pazifik unter dem Applaus der Reisegefährten. Die Realität – sie hatte mich wieder.