Prozess: In New York steht Joseph Massino, der Chef des Bonanno-Clans, vor Gericht. Die anderen Gangsterbosse seines Kalibers sind schon hinter Gittern oder tot.

New York. Der Saal im Bundesgericht von Brooklyn war auf den letzten Stehplatz besetzt. Anwälte, FBI-Agenten, Mafia-Mitglieder und ihre Frauen füllten die Reihen. Auf der Anklagebank: Joseph Massino (61), Boss der mächtigsten New Yorker Gangster-Familie, den Bonannos. Im Zeugenstand: Frank Lino, Massinos langjähriger Freund - und die erste "Ratte" in der Geschichte des Clans. Ratte (oder Kanarienvogel) werden in der Cosa Nostra Mafiosi genannt, die gegen ihren Clan "singen", um ihre eigene Haut zu retten.

Die beiden Männer saßen zwölf Meter von einander entfernt. Lino wich den Augen seines alten Bosses aus, während er die Geheimnisse der Familie ausplauderte. Massino, der einst 75 000 Dollar für Linos Anwalt bezahlt hat, spielte mit einem Gummiband. Er starrte sein Gegenüber kalt an. Sein Blick sagte: "Ich kann nicht glauben, dass du dies tust."

New York erlebt gegenwärtig einen Prozess, der das endgültige Aus der Mafia bedeuten könnte. Joe Massino, wegen seiner 180 Kilo auch Big Joey genannt, ist buchstäblich der letzte Pate Amerikas. Die anderen Bosse der fünf einflussreichsten Mafia-Familien sind entweder hinter Gittern oder dort bereits gestorben. Ihre Nachfolger werden von niemandem ernst genommen.

"Joey ist ein ganz großer Fisch. Er hat seinen Ruf auf der Straße nicht, weil er Herr Freundlich ist", sagt FBI-Agent Bruce Mouw, der auch Mafia-Boss John Gotti überführte. Und so ist die Anklageliste gegen Massino lang: verbotenes Glücksspiel, Erpressung, Drogenhandel und siebenfacher Mord. Sollte es einen Schuldspruch geben, dann wird auch er lebenslänglich sitzen - und dann wird auch die Bonanno-Familie zerfallen.

Anders als der vor zwei Jahren verstorbene Mafia-Boss John Gotti ist Big Joey den meisten Amerikanern kein Begriff. Dabei gehört er mit Gangstern wie Al Capone, Lucky Luciano, Frank Castello oder Vincent Gigante in eine Reihe. Im Gegensatz zu den anderen war er jedoch stets ein vorsichtiger Mann. Er ließ sich nicht vom Hollywood-Klischee blenden, sondern vermied es, in den Zeitungen aufzutauchen. Er ließ alle seine Unterbosse, Kapitäne und Soldaten den Omerta-Eid schwören, den Schweige-Code der sizilianischen Ur-Mafia. Er war sogar so vorsichtig, dass niemand seinen Namen aussprechen durfte, sondern sich nur ans Ohr fasste, wenn er Big Joey meinte. Seine einzige Schwäche: Süßigkeiten und Pasta. Alle seine Unterbosse und Kapitäne haben sich stets an den Code gehalten. Bis jetzt.

Nun wird die Geschichte des Bonanno-Clans und des Aufstieges von Joe Massino in allen Details an die Öffentlichkeit getragen. Die Familie diente als Vorbild für den 1996 gedrehten Film "Donnie Brasco" mit Johnny Depp und Al Pacino. In den 70er-Jahren war der FBI-Agent Joseph Pistone unter dem Namen Donnie Brasco in den Clan eingeschleust worden. Fünf Jahre lang spielte er den Gangstern vor, einer von ihnen zu sein. Er wurde in die Familie aufgenommen, ging in ihren Häusern ein und aus.

1981 brach dann ein blutiger Machtkampf in der Bonanno-Familie aus, in dessen Mittelpunkt Massino stand. Er war damals noch ein Kapitän, also im dritten Rang der Hierarchie. Die "Ratte" Frank Lino schilderte jetzt vor Gericht, was sich am 5. Mai jenes Jahres abgespielt hat, als Massino seine drei rivalisierende Kapitäne Alfonso (Sonny Red) Indelicato, Philip (Philly Lucky) Giaccone und Dominick (Big Trin) Trinchera beseitigte: "Die drei waren zu einem Treffen in einen Club in Brooklyn bestellt worden. Joey und ein paar andere warteten auf sie. Unmittelbar nachdem sie eingetroffen waren, kamen zwei Männer mit Kapuzen und Maschinenpistolen die Treppe herunter. Big Trin sprang auf sie zu und wurde auf der Stelle erschossen. Ich sah, wie Massino Sonny Red mit einem Gegenstand auf den Kopf schlug."

Das FBI war über den Krieg so beunruhigt, dass es Donnie Brasco alias Joe Pistone abzog. Seine Aussagen und Tonbänder brachten immerhin Dutzende Mafiosi ins Gefängnis.

Massino tauchte ab. Zuvor ließ er jedoch noch Sonny Black Napolitano umbringen und ihm beide Hände abhacken. Eine Strafe dafür, dass der Kapitän den FBI-Mann Brasco in die Familie geschleust und zugelassen hatte, dass eine "Ratte" die Hände von ehrenhaften Mafiosi schüttelte. Frank Lino, der beim Mord an Sonny Black dabei war: "Er flehte uns an, es kurz zu machen."

Massino stellte sich 1987 überraschend der Polizei. In seinem Prozess wegen illegaler Praktiken in der Teamsters-Gewerkschaft saß er FBI-Agent Joe Pistone gegenüber, der gerade an einem Drehbuch arbeitete. Er fragte: "Hey Donnie, wer wird mich in deinem Film spielen?" Pistone: "Wir haben ein Problem. Wir finden niemanden, der fett genug ist." Massino lachte.

Massino saß vier Jahre ab. Als er 1991 entlassen wurde, besuchte er einen alten Jugendfreund: John Gotti. Der war Boss der damals mächtigsten Gambino-Familie. Gotti sorgte mit seinem Einfluss, der weit über den eigenen Clan hinausging, dafür, dass Massino Pate der Bonannos wurde, die sich noch immer nicht von dem Schlag durch Donnie Brasco erholt hatten.

In den kommenden Jahren machte Massino seine Familie mit viel Geschick und Gewalt wieder mächtig. Das FBI versuchte vergeblich, ihn zu überführen. Erst im Jahr 2002 klickten die Handschellen an seinen Gelenken - obwohl die Beweislage dünn war. Doch dann begann Frank Lino, der bereits wegen sechsfachen Mordes im Gefängnis saß, zu "singen". Was das FBI ihm dafür versprochen hat, ist unbekannt.

Die Sympathien in New York sind klar verteilt. Die Leute halten es mit Joe Pistone, der über Big Joey sagt: "Er ist einer der letzten großen Gangster. Er hat sich noch an die alten Werte gehalten." Für Zeuge Frank Lino haben Tageszeitungen wie die "New York Post" dagegen nur noch einen Namen: "Ratte."

Der Prozess wird voraussichtlich noch drei Monate dauern. Massino hat bereits einen neuen Boss eingesetzt, der sein verlängerter Arm aus dem Gefängnis sein soll. Doch das Ende der Bonanno-Familie scheint ohne den letzten Paten nur noch eine Frage der Zeit.