2002 gewann Sven Hannawald als Erster alle Skispringen der Vierschanzentournee. Es folgte ein tiefer Fall: Burn-out-Syndrom. Im Interview spricht er über seinen Höhenflug, seinen Absturz und sein Buch.

Hamburg Später am Abend wird Sven Hannawald noch bei „Markus Lanz“ im Studio sitzen, über die Champions League plaudern und über sein Buch: „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“. Ein wenig angespannt ist er schon, schließlich ist er zum ersten Mal in der Talkrunde eingeladen, und das ZDF sendet live. Aber hinterher, das weiß der einstige Skisprungstar, wird sich der Zustand legen und der Zufriedenheit weichen. Nicht so wie damals, als ihn die Unruhe nicht mehr losließ und schließlich ein Burn-out seinen Körper lahmlegte. Vor uns sitzt ein zufrieden aussehender Mann von 38 Jahren und 78 Kilogramm, lässig in Lederjacke und Jeans gekleidet, bereit, über sein Leben offen zu reden.

Hamburger Abendblatt: Herr Hannawald, sind Sie ein politischer Mensch?

Sven Hannawald: Ich habe schon viele sehr nette Politiker kennengelernt, musste aber die Erfahrung machen, dass sie, wenn sie einmal an der Macht waren, ihre Ankündigungen nicht wahr machen konnten. Leider rühren doch meist zu viele im Brei herum, als dass wirklich große Änderungen umgesetzt werden könnten.

Bedeutet das, Sie gehen am Sonntag nicht wählen?

Hannawald: Doch, definitiv. Ich werde wahrscheinlich mein Leben lang die gleiche Partei wählen. Aber auch sie hat Schwierigkeiten, ihre Positionen durchzusetzen, weil sie allein keine Mehrheit hat.

Würden Sie sich auch öffentlich für diese Partei engagieren?

Hannawald: Das nicht. Ich informiere mich über politische Zusammenhänge und das Weltgeschehen in Tageszeitungen und Nachrichtensendungen. Aber am Ende bin ich doch der Sportler, der rausgeht und die Welt erleben will. Ich bezweifle auch, dass ich in meiner Position viel beeinflussen könnte.

Andere Sportler sind durchaus politisch aktiv.

Hannawald: Vielleicht kommt das ja noch mal. Im Moment will ich das Leben so genießen, wie ich es mir früher einmal abgeschworen habe. Aber ich sage zu nichts nie.

Mir Ihrem Buch treten Sie aber doch an die Öffentlichkeit, um Aufklärungsarbeit zu leisten.

Hannawald: Das mag man politische Arbeit nennen. Für mich ging es darum, Ansatzpunkte für Menschen aufzuzeigen, denen es ging wie mir. Ich war ja an einem Punkt, an dem ich nicht mehr wusste, wer ich bin, und nicht mehr daran geglaubt hatte, wieder ein normales Leben führen zu können. Im Nachhinein betrachtet wäre ich damals froh gewesen, ein vergleichbares Buch in die Hände bekommen zu haben, einen Leitfaden, wie man eine solche Krise überwindet. Wenn ich sehe, wie lange sich Robert Enke mit diesen Gefühlen herumgeschlagen hat, dieser Verzweiflung, die ich auch kenne – ich weiß nicht, ob ich nach einer so langen Zeit nicht auch nur noch diesen einen Ausweg gesehen hätte. Man ist in dieser Situation nicht mehr Herr der Lage.

Sind Sportler auf Sie zugegangen und haben gesagt: Das habe ich auch erlebt?

Hannawald: Ich werde schon von Menschen angesprochen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und vielleicht nicht den Mut hatten, das nach außen zu tragen. Von Sportlern weniger. Man meint ja gerade im Leistungssport keine Schwächen zeigen zu dürfen. Im Nachhinein kann ich vielleicht sogar froh sein, so tief gefallen zu sein, weil ich gezwungen war, mich mit mir auseinanderzusetzen, und es nicht einfach übergehen konnte. Zum Glück habe ich Menschen getroffen, die mir den richtigen Weg gezeigt haben. Aber erst, nachdem ich von Arzt zu Arzt gezogen bin und immer nur zu hören bekam: Sie sind kerngesund. Mit jedem Mal wurde meine Verzweiflung tiefer. Heute weiß man viel mehr über Burn-outs und Erschöpfungszustände.

Befürchten Sie einen Rückfall?

Hannawald: Das wird mir nie wieder passieren, dafür bin ich heute viel zu sensibilisiert und kenne die Alarmsignale zu genau.

Was bedeuten Ihnen Ihre Erfolge rückblickend?

Hannawald: Wenn ich an den Winter 2001/02 zurückdenke, mit den vier Siegen bei der Tournee, dem Gewinn der Skiflug-WM und den beiden Olympiamedaillen, dann kann ich das schon genießen und auch stolz darauf sein. Aber auf der anderen Seite ist da auch die Verzweiflung. Das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Ich war immer ein Mensch, der sich in Gesellschaft wohlfühlte. Auf einmal wollte ich nur noch das Einzelzimmer, am liebsten dunkel, mich in eine Ecke setzen und niemand hören, niemand sprechen, einfach nur nichts tun. Mit meinem Wissen heute würde ich all das nie wieder zulassen – auch nicht wenn ich dafür diese Erfolge bekäme. Ich würde mich immer dafür entscheiden, dass es mir gut geht.

War der Preis des Erfolgs zu hoch?

Hannawald: Ich würde nichts mehr ändern, es war mein Lebensweg. Ich habe etwas erreicht, was bis heute niemand mehr gelungen ist. Sagen wir es so: Ich bin froh, dass ich das Highlight in meinem Leben hinter mir habe. Einen so extremen Weg tut man sich nur einmal an. Den Motorsport kann ich genießen, aber ich bin nicht davon besessen.

Wie schwer ist dieser Grenzgang zwischen Erfolgsbesessenheit auf der einen und dem richtigen Maß auf der anderen?

Hannawald: Sehr schwer. Ich habe beispielsweise gemerkt, dass mein Gewichtsverlust irgendwann an die Substanz ging. Auf der anderen Seite hat es mich erfolgreich gemacht. Ich habe meinem Körper über Jahre zu viel zugemutet.

Geht es nicht allen Skispringern so?

Hannawald: Alle gehen extreme Wege. Zum Glück gibt es jetzt Regeln, die es etwas eingrenzen. So mager, wie ich damals war, hätte ich heute keine Chance, weil die Sprungkraft wichtiger geworden ist.

Was wiegen Sie heute?

Hannawald: Ohne Fußballtraining etwa 78 Kilo. Letztlich merke ich noch immer, dass mein Körper gewohnt ist, wenig Essen zu bekommen. Ich tue mich sehr schwer, die Kalorien, die ich beim Training verbrenne, auszugleichen. Das wird noch einige Zeit dauern.

Was würden Sie einem jungen Sportler raten, damit ihm ein solch tiefer Fall erspart bleibt?

Hannawald: Ich würde auf gewisse Alarmsignale achten, die ich damals abgetan habe. Ich verspürte eine Müdigkeit, die ich allein durch mehr Schlaf nicht in den Griff bekam. Da hätte ich eine Pause gebraucht: eine Woche, zwei Wochen, raus aus dem Alltag, etwas neues sehen. Aber klar ist auch: Als Sportler muss man über gewisse Grenzen gehen und Dinge entbehren. Wichtig ist, einen Ausgleich zu haben. Für mich zählte jahrelang nur der Sport. Wenn ich nach Hause kam, habe ich mich vor den Videorecorder gesetzt und studiert, was ich besser machen kann, wie die Schanze des nächsten Wettkampfs ist und so weiter. Ein Gregor Schlierenzauer lebt sein privates Hobby, die Fotografie. Das ist extrem wichtig.

Welche Rolle spielten die Medien? RTL veranstaltete seinerzeit ja einen Riesenaufruhr um die „Formel 1 des Winters“, Sie konnten keinen Schritt unbeobachtet tun.

Hannawald: Dieser Hype hat uns gezwungen, die Grenze noch schärfer zu ziehen. Es gab Momente, in denen wir für die Öffentlichkeit greifbar waren. Da haben wir funktioniert. Aber sobald ich im Bus nach Hause saß, war damit Schluss. Je mehr wir öffentlich waren, desto strikter musste ich mich privat abschotten. Ich konnte ja kaum noch ungestört aus dem Haus gehen. Das hat sicher dazu beigetragen, dass das Leben noch monotoner wurde.

Vermissen Sie nichts?

Hannawald: Natürlich erinnere ich mich auch gern an diese Zeit. Wir standen im Mittelpunkt, hatten immer ein volles Haus. Diese Atmosphäre aufzusaugen war genial. Man war wer, viele haben einen bewundert. Das war Motivation, den schwierigen Alltag weiterzuleben. Natürlich fehlt mir auch dieses Gefühl zu springen. Gerade das Skifliegen war mein Ein und Alles. Es gab damals diesen Spruch: Je größer die Schanze, desto Hanni. Wenn ich sehe, wie weit die Jungs heute fliegen – da würde ich gern mit dem Finger schnipsen und es selbst noch einmal auskosten.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie es lange gar nicht ertragen konnten, Skispringen anzuschauen.

Hannawald: Ich wollte meine Leidenschaft leben, merkte aber, dass mein Körper es nicht mehr mitmachte. Dieser Zwiespalt war sehr schmerzhaft. Erst als ich 2010 im Motorsport eine neue Aufgabe gefunden habe, konnte ich wieder mit meiner Vergangenheit als Skispringer umgehen.

Welche Ziele haben Sie im Motorsport?

Hannawald: Anfangs wollte ich auch so schnell sein wie Sebastian Vettel oder Michael Schumacher, musste dann aber feststellen, dass das nicht möglich ist. Meinen Ehrgeiz, meinen Perfektionismus musste ich erst einmal überwinden. Im Skispringen hatte ich für jedes Detail ein Gefühl. Im Motorsport fühle ich mich wie ein Kind, das etwas neu erlernt. Mir ist inzwischen klar, dass ich keinen Vertrag in der Formel 1 oder der DTM mehr unterschreiben werde. Für mich ist es nicht mehr als ein Hobby, das ich genießen möchte. Ich kann mich glücklich schätzen, ein solches PS-Monster fahren zu dürfen.

Ist es eine Ersatzdroge?

Hannawald: Ich habe mich nun einmal mit Adrenalin verseucht. Nach meiner Skisprungkarriere habe ich mein Leben genossen: die Spaziergänge, die Zeit für Freunde und Familie. Aber am Ende das Tages war es einfach langweilig. Erst seit ich im Rennauto sitze, bin ich wieder ausgeglichen. Die Parallele zum Skispringen ist, dass man sich an die Grenze herantastet und dabei ein körperliches Risiko eingeht. Mein Körper schreit nach diesem Kick. Mit der Zeit wird das sicher nachlassen.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?

Hannawald: Ja. Der glücklichste und ausgeglichenste, den man sich vorstellen kann. Ich bin mit dem Alltag zufrieden, meiner Beziehung mit Alena Gerber, meinem Hund Dexter, irgendwann dem Nachwuchs, hoffentlich. Ich kann das alles genießen. Ich musste einen tiefen Punkt durchschreiten, kann aber heute sagen: Ich habe den Luxus, nicht mehr unbedingt etwas erreichen zu müssen. Das Berufliche, vielleicht eine Tätigkeit im Deutschen Skiverband, wird sich ergeben. Aber ich bekomme deswegen keine grauen Haare.

Ein olympischer Winter liegt vor uns. Was können wir von den deutschen Springern erwarten?

Hannawald: Der Sommer-Grand-Prix lässt jedenfalls hoffen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals so aufgetrumpft haben – auch wenn man berücksichtigen muss, dass die starken Österreicher nicht dabei waren.

Kann es zu einem ähnlichen Skisprungboom kommen wie damals?

Hannawald: Glaube ich nicht. Man braucht einen Fernsehsender, der es ähnlich pusht wie RTL damals.

Auch weil Sie damals die sportliche Messlatte so hoch gelegt haben, wie es kaum höher geht?

Hannawald: Diese Vergleiche kommen zwangsläufig. Ein junger Tennisprofi muss sich nun einmal an Boris Becker und Steffi Graf messen lassen, auch wenn das vielleicht ungerecht ist. Wenn ein Skispringer über sich lesen muss: „Ein neuer Martin Schmitt“, dann kann die Motivation schnell verloren gehen.

Noch gibt es den alten Martin Schmitt. Hat er den richtigen Zeitpunkt für den Absprung verpasst?

Hannawald: Wer legt den fest? Wenn die Öffentlichkeit das so empfindet? Martin hat immer noch so viel Ehrgeiz, sich zu verbessern, dass er sich nicht wegreden oder wegschreiben lässt. Er wird dann aufhören, wenn er den Zeitpunkt für richtig hält. Ich habe einen Heidenrespekt vor ihm.

Ihrem sechsjährigen Sohn Matteo widmen Sie in Ihrem Buch nur eine halbe Seite. Für die meisten sind Kinder das wichtigste Kapitel im Leben.

Hannawald: Unser Kontakt ist nicht gut, aber ich wollte ihn auch nicht ganz aus dem Buch herauslassen. Mir fällt es immer noch schwer, einen normalen Vater zu geben. Als er zur Welt kam, war ich mit mir selbst nicht im Reinen. Damals musste ich darauf achten, dass es mir wieder besser geht, damit auch andere etwas von mir haben. Jetzt bin ich bereit dafür, ihm ein Vater zu sein. Ich bin froh, dass es ihn gibt, und will unser Verhältnis unbedingt verbessern. Aber ich weiß, dass es seine Zeit brauchen wird.