Eine Kreuzfahrt mit der “Lyubov Orlova“ entlang der kanadischen Ostküste bietet auch Einblicke in den Alltag der dort lebenden Inuit

Ein steifer Nordwest peitscht Regenschwaden gegen die Pappkameraden von Battle Harbour, die am Hafen zur Begrüßung angetreten sind. Einer der Männer in Gummistiefeln rührt noch in einem Holzzuber, die anderen haben sich vor dem Mehlspeicher aufgereiht. "Das ist der Küfer", stellt Mike Earle vor, so etwas wie der Ortsvorsteher heutiger Tage, "hier der Koch, und der Mann rechts vorn hieß 'Entenschnabel' - wegen seiner Nase." Es sind Handwerker, Fischer und Arbeiter, ganz gewöhnliche Leute aus dem Dorf, denen ein ungewöhnliches Denkmal gesetzt wurde: Ihre lebensgroßen Fotos aus dem Jahre 1895 zieren eine Hauswand - Battle Harbour ist eine Museumsinsel.

Es ist die zweite Station der elftägigen Reise der "Lyubov Orlova" auf ihrem Weg von Neufundland an der Ostküste der Halbinsel Labrador entlang, hoch nach Kuujjuaq. Jeden Tag geht es mit Zodiacs, den schwarzen Gummibooten, ein- oder zweimal an Land. Und fast immer finden sich Hinterlassenschaften der Europäer, die seit dem 16. Jahrhundert die Küste Labradors besuchten: Fischer, Walfänger, Händler, Missionare. Es war der Fisch, der französische und portugiesische Seeleute in das raue Land führte, Kabeljau in ungeahnten Mengen. Im 18. Jahrhundert ließen sich Briten auf Battle Harbour nieder und errichteten feste Gebäude. Mike, ein ehemaliger Fischer mit vielen Löckchen überm wettergegerbten Gesicht, zeigt den Gästen die Schuppen, in denen eineinhalb Millionen Pfund Salz auf drei Stockwerken lagerten. Mit Salz wurde nicht nur der Kabeljau haltbar gemacht, in Salz bettete man in harten Wintern auch Tote, bis es taute.

Ganz oben unter den schwarzen Dachsparren flickten die Männer Netze und erzählten sich Geschichten. "Die Luft war dick vom Qualm", sagt Mike, "der Boden glitschig von Spucke und Kautabak, die Schwindsucht hatte guten Nährboden. Und es stank nach Fisch, Schweiß und Robbenspeck."

104 Gäste sind an Bord der russischen "Lyubov Orlova", die von Cruise North betrieben wird, einer Firma, die im Besitz der Volksgruppe der Inuit ist. Deshalb machen auch sechs junge Inuit die Reise als Praktikanten mit. Mae, Louisa, Isabella, Joseph, Joe und Alec geben Schwimmwesten aus und steuern die Zodiacs. Vor allem aber sind sie einfach da, erzählen aus ihrem Leben und fragen interessiert die Gäste aus - unkompliziertes Miteinander statt bemüht "authentischer Begegnungen".

Der Wind hat mittlerweile aufgefrischt. Unbeirrbar, doch kräftig bewegt schippert die "Lyubov Orlova" nach Norden. Über die Bullaugen wischen Brecher, das Abendessen aber findet wieder Zuspruch: Kabeljau in Schinken oder Hähnchenbrust mit Brotpudding? Currysuppe davor, oder Saibling aus dem Rauch? Zum Nachtisch Birnenkuchen - die kanadische Küchencrew heimst täglich großes Lob ein.

Mit den Fischern kamen die Walfänger. Zwischen 2000 und 3000 Basken und Spanier reisten jedes Jahr mit Harpunen und Trankesseln an. Auf der von Menschen längst aufgegebenen Insel Grady haben sie einen gigantischen Schrottplatz hinterlassen. Winden rosten zwischen Multebeeren und weiß blühendem Labradortee, mächtige Kessel stehen in der baumlosen Tundra herum, das Eisenskelett einer ehemaligen Halle wackelt im Wind. Es sind letzte Spuren des industriellen Walfangs, vermutlich aus der Zeit zwischen 1920 und 1940, als Walöl nicht mehr als Petroleumersatz diente, sondern als industrielles Schmiermittel.

An Bord der "Lyubov Orlova" geht es sehr ungezwungen zu. Fleecejacken und Outdoorhosen dominieren. Abends zeigen die Expeditionsführer Dokumentarfilme oder sprechen über Pflanzen, Vögel und die Inuit-Geschichte. Auch zwei Praktikantinnen treten auf. Mae und Sue geben Proben von Throatsinging, der Oberton-Musik der Inuit.

In Makkovik steht der nächste Landgang an. Kleine Allradfahrzeuge brettern über die staubigen Straßen, von Kindern bemalte Öltonnen sollen die Erwachsenen Müll-Mores lehren, und im Gras glüht golden der arktische Mohn. Die 400 Einwohner nehmen den "Überfall" der 100 Auswärtigen mit scheuer Freundlichkeit. Inuit, Weiße und vor allem Menschen mit gemischten Genen leben hier zusammen. Im Gemeindesaal tritt die Trommelgruppe der Jugendlichen auf, der Nachwuchsliedermacher trägt einen selbst verfassten Song vor, und hinterher gibt es Stücke von gebratenem Karibu. Sogar Geschenke hat die Gemeinde vorbereitet. In der Tüte findet sich ein Prospekt des Dorfes und ein Armband aus gelbem Plastik mit einer Inschrift: "Aukalauguk Imminekatanik ... Kujaliutigilaullavut Inosivut". "Sag nein zum Selbstmord. Feiere das Leben", übersetzt die 19-jährige Jenna. Elf Menschen haben sich in Nain, der nächsten Stadt, allein in einem Jahr umgebracht. Sie selbst hat vier enge Freunde verloren. Alkohol, Drogen, aber auch das Gefühl, als Inuit nicht Inuit und als Weißer nicht weiß genug zu sein - es gebe viele Erklärungen, meint Jenna. "Aber am Ende weiß oft niemand, warum. Es bricht einem das Herz."

Weiter nach Norden zieht das Schiff, immer öfter an Eisbergen vorbei, auf denen manchmal sogar ein Eisbär verharrt. In der einstigen Mission Hebron gruppieren sich zerfallene Schuppen um eine große Holzkirche. Missionare der Herrnhuter Brüder, einer evangelischen Glaubensbewegung mit Sitz in Deutschland, hatten die Station 1818 gegründet, 1959 wurde sie verlassen. Ganz im Norden Labradors erstreckt sich der Torngat Mountains Nationalpark. Wie düstere Kulissen ragen die Wände des Nachvak-Fjords hoch, als die Zodiacs in der Morgendämmerung die Passagiere am Ufer abladen. Kein Laut. Mücken und Blackflies, die Plage Labradors, halten sich noch zurück. Im nächsten Augenblick bricht die Sonne durch und gießt Gold über die Bucht. Ganz plötzlich glitzert der Fluss wie ein Saphir, die Büsche lodern auf und die Berge scheinen von innen zu erglühen - es ist der letzte Tag der Reise, in diesem stillen, kahlen, wunderschönen Land.