Unser Dorf: Die Abendblatt-Regionalausgabe Stormarn auf Sommertour in Rausdorf. Der kleine Ort bietet viele Höhen und Tiefen, weil er am Zipfel einer Endmoräne liegt

Das Tor zur Welt ist im Grunde genau hier", sagt Rüdiger Nehberg und blickt aus dem Fenster des Rausdorfer Mühlenhauses, in dem der Menschenrechtler und Abenteurer seit 29 Jahren lebt. "Wenn ich dort unten in den Bach springe, kann ich theoretisch bis in die Nordsee schwimmen und von dort in den Atlantik", sagt er. Etwa die Hälfte des Jahres verbringt der 76-Jährige in dem 230-Seelen-Dorf an der Corbek, die restliche Zeit ist er auf Reisen unterwegs. In der kommenden Woche beispielsweise fliegt er nach Saudi-Arabien, hofft dort auf eine Audienz beim König. "Rausdorf ist mein Refugium", sagt Nehberg. "Hier erhole ich mich und tanke auf."

In der zweitkleinsten Gemeinde Stormarns leben mehr als dreimal so viele Rinder wie Menschen. "Wir sind noch ein richtiges, landwirtschaftlich geprägtes Dorf", sagt Bürgermeister Gunter Behncke. Insgesamt gibt es in Rausdorf sieben Höfe, fünf mit Milchkühen und zwei mit Pferden. In den 1970er-Jahren sei mal ein Zusammenschluss mit den Nachbargemeinden Großensee und Witzhave im Gespräch gewesen. Doch die Rausdorfer wehrten sich erfolgreich dagegen. "Wir wollten selbstständig bleiben und nicht Großwitzdorf sein", sagt Claas Riecken, der mit Norbert Walther vor zwei Jahren die Chronik zum 750-jährigen Bestehen des Ortes geschrieben hat.

Riecken ist zudem einer von 23 Rausdorfern, die in der Freiwilligen Feuerwehr der Gemeinde aktiv sind. Bei Treffen mit anderen Feuerwehren des Amtes Trittau würden die Rausdorfer Kameraden immer leicht zu erkennen sein. "Wir haben das älteste Auto", sagt Riecken. "Es ist Baujahr 1977, ein richtiger Oldtimer. Aber ein neues Fahrzeug können wir uns einfach nicht leisten."

Claas Riecken ist in Rausdorf aufgewachsen. Nachdem er zwischenzeitlich 17 Jahre in Kiel gelebt hatte, kehrte er vor neun Jahren in sein Heimatdorf zurück. "Rausdorf hat für mich einen besonderen Zauber", sagt der 45-Jährige. "Obwohl das Dorf so klein ist, gibt es viele Höhen und Tiefen, weil Rausdorf am Zipfel einer Endmoräne liegt." Auch sei es schön, die Geschichten seiner Mitbürger zu kennen. Riecken: "In Rausdorf kennt zwar nicht jeder jeden, aber man kennt ganz viele."

Der Großvater von Claas Riecken war Lehrer an der Dorfschule. Bis 1966 wurden in der einklassigen Volksschule Kinder des ersten bis neunten Jahrgangs unterrichtet. Heute wohnt Roswitha Lorentz in dem Gebäude an der Alten Dorfstraße. "Als wir das Haus 1968 gekauft haben, standen noch die alten Schulbänke drin, weil die Sitzungen des Gemeinderats dort abgehalten wurden", sagt die 74-Jährige, die mit ihrer Tochter auf dem Markt in Rahlstedt arbeitet. Einmal in der Woche, am Donnerstag, öffnet sie ihren Laden von 14 bis 17 Uhr auch für die Dorfbewohner. Dann können die Rausdorfer bei ihr Käse, Wurst, Eier, Honig, selbst zubereitete Salate und Eiernudeln kaufen - und vor allem Neuigkeiten austauschen. Dafür stehen vor dem Wagen extra mehrere Stühle bereit. "Früher haben wir uns zum Kegeln getroffen", sagt Roswitha Lorentz. "Heute kommen alle zu mir in den Laden." Die ersten Kunden seien bereits um 13 Uhr da und würden dann auf die anderen warten. Wenn alle da seien, werde ausgiebig gequatscht.

Eine der jüngsten Dorfbewohnerinnen lebt bei Frauke Rodenbusch. Die kleine Dolores ist erst 13 Tage alt, steht aber schon fest auf ihren vier Beinen. "Das Kalb wurde am 18. August geboren", sagt Frauke Rodenbusch. Während sie dem Tier Milchpulver gibt, grasen Dolores' Mutter Dörte, Tante Dornröschen und Großmutter Donja mit Sabine und Sandra auf einer Weide oberhalb des Hofes. "Ich nenne das dort oben unsere Alm", sagt Frauke Rodenbusch und blickt lächelnd aus dem Fenster. Die heute 80-Jährige ist vor 57 Jahren nach Rausdorf gezogen. Sie sagt: "Damals war hier alles voller Flüchtlinge, auch bei uns auf dem Hof haben etwa 20 gelebt."

Einige Meter weiter, auf dem Reiterhof Bockhold, lebt die Familie Bockhold/Schmolling mit rund 200 Pferden. "Mein Urgroßvater hat den Hof 1934 gekauft", sagt Gerd Bockhold. 1978 gründete er den Reit- und Fahrverein Rausdorf, der heute 168 Mitglieder hat. Alle zwei Jahre organisiert die Familie ein großes Dressur- und Springturnier. Täglich treffen sich auf dem Außenreitplatz, dem Springplatz und in den beiden Reithallen Freizeit-, Turnier- und Westernreiter, Kinder und Erwachsene, Damen- und Herrengruppen. Rena Schmolling sagt: "Bei uns gibt es alles. Die Gemeinschaft ist toll." So reisen jedes Jahr im Januar acht bis zehn männliche Mitglieder des Vereins sowie einige weitere Dorfbewohner für eine Woche zum Skifahren ins Allgäu. 14 Tage später sind die Frauen an der Reihe.

Seit 30 Jahren trifft sich Gerd Bockhold zudem einmal im Monat mit Bürgermeister Gunter Behncke und drei weiteren Männern zum Kochen. "Es geht reihum und gibt jedes Mal ein richtiges Menü", sagt Bockhold, "mit Vorspeise und Nachtisch." Für die Frauen gibt es die Handarbeitsgruppe. Bürgermeister Gunter Behncke sagt: "Wir Männer wollten damals auch mal etwas Produktives machen und haben uns für das Kochen entschieden."

Noch länger existiert die Skatgruppe der Gemeinde - und zwar seit 50 Jahren. Jeden Mittwoch von halb acht bis halb zehn treffen sich Ernst Burmeister, Rolf Hagelstein und Ernst Pfeffer zum Spielen. "Es gibt eine Flasche Bier, und dann wird erzählt", sagt Ernst Burmeister. Inzwischen haben sich auch ihre Frauen der gemütlichen Runde angeschlossen. Inge Burmeister sagt: "Wir spielen dann Mensch ärgere dich nicht."

Ernst und Inge Burmeister sind in Rausdorf aufgewachsen. "Wir sind hier zur Schule gegangen und haben uns hier lieben gelernt", sagt der Landwirt, der 16 Jahre lang Bürgermeister und zudem viele Jahre Wehrführer war. Heute ist Ernst Burmeister Ehrenbürgermeister der Gemeinde. Den Hof mit rund 100 Milchkühen führt inzwischen sein Sohn. "Ich bin froh, dass Rausdorf in all den Jahren nicht so viel gewachsen ist", sagt der 84-Jährige. "Alle, die hier wohnen, sind sehr glücklich."

Auch Ernst Pfeffer liebt das Leben in Rausdorf und vor allem die gute Dorfgemeinschaft. "Wir Landwirte helfen uns, wenn beispielsweise mal eine Maschine kaputt geht", sagt der 77-Jährige. "Das war schon immer so und hat sich bis heute nicht geändert." Neben seiner Tätigkeit als Landwirt hat Ernst Pfeffer 17 Jahre lang als Postbote der Gemeinde gearbeitet. Er habe damals so manchen Geburtstag mitgefeiert, sagt Pfeffer: "Aber irgendwann musste ich das Feiern immer abbrechen, weil ich die Tour ja noch beenden musste." Der alte Briefkasten, den die Menschen schon damals genutzt haben, steht immer noch vor dem Hof, den inzwischen Tochter Andrea Evert führt.

"Rausdorf hat etwas sehr Spezielles für sich", sagt Stefan Tock. "Hier hat sich wenig verändert." Der 36-Jährige arbeitet auf dem Hof von Hermann Jacobsen, der seit dem 17. Jahrhundert in Familienbesitz ist. "Ich habe 170 Rinder, vier Pferde und viele Katzen", sagt Landwirt Jacobsen. Speziell dürfte an Rausdorf auch sein, dass die Gemeinde nicht an das öffentliche Leitungswassernetz angeschlossen ist. Claas Riecken: "Wir haben unsere eigenen Brunnen und trinken Wasser aus Rausdorf."

Für Bürgermeister Gunter Behncke ist es jedes Mal wie Urlaub, wenn er nach der Arbeit aus Hamburg nach Hause zurückkommt. Dennoch hat der Bauingenieur auch Wünsche für die Zukunft der Gemeinde. "Es ist nicht so schön, dass wir keine öffentliche Verkehrsanbindung haben", sagt er. Nur die Schulbusse halten morgens und mittags in der Gemeinde. "Aber wer nachmittags irgendwohin möchte und kein Auto hat, der hat keine Chance", sagt Behncke. Der 66-Jährige hat deshalb bereits einen Antrag beim Anruf-Sammeltaxi eingereicht. Behncke: "Ich hoffe, dass wir dort aufgenommen werden."