Russlands Geheimdienst entführt ukrainischen Politiker. Und der Senat schaut zu – allerdings schon vor 298 Jahren

Hamburg . Der ukrainische Politiker wird vom Hamburger Senat höflich empfangen. Man hat viel Verständnis für den Gast aus dem Osten, hört sich das flammende Plädoyer des eloquenten Mannes für die Unabhängigkeit seiner ukrainischen Heimat an. Politische Unterstützung kann man Andrij Wojnarowskyj aber leider nicht gewähren. Dem steht die Realpolitik im Wege und die guten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland sowieso. Aber schon das Gespräch betrachten die diplomatischen Vertreter Russlands als Provokation.

Was so aktuell klingt, hat sich nicht dieser Tage ereignet, sondern vor 298 Jahren. Am Hauseingang an der Großen Johannisstraße 13 erinnert eine Gedenktafel mit deutschem und ukrainischen Text an eine schillernde Persönlichkeit der russisch-ukrainischen Geschichte, für die ein Aufenthalt in Hamburg schicksalhafte Bedeutung erlangt hat. Gedenktafeln über den Aufenthalt von historischen Persönlichkeiten findet man an vielen Häusern, aber hier geht es um ein Geschehen, das viel dramatischer ist, als es der schlichte Text der Tafel vermuten lässt.

In einer verdunkelten Kutsche wird Wojnarowskyj gekidnappt

In der Ukraine gilt Andrij Wojnarowskyj (1689–1740) heute als Nationalheld, in Russland wird er als Verräter verachtet. Er war der Neffe und Erbe des ukrainischen Kosaken-Kommandeurs Iwan Masepa (1639–1709), eines Freundes von Zar Peter I. Nachdem Masepa dem Zaren in mehreren Schlachten gedient hat, zerbricht die Freundschaft, vor allem weil Peter I. den Einfluss der Kosaken beschneidet.

Schließlich entschließt sich Masepa zu einem dramatischen Schritt: 1707 wechselt er die Fronten, kämpft nun an der Seite der Schweden und hofft auf diese Weise die Unabhängigkeit seiner ukrainischen Heimat von Russland zu erreichen. Das endet in einem Desaster: Nachdem die Schweden in der Schlacht von Poltawa gegen die Russen unterliegen, ist auch Masepas Lage aussichtslos. Gemeinsam mit Gefolgsleuten wie Pylyp Orlyk und Wojnarowskyj flieht er auf osmanisches Hoheitsgebiet. 1709 stirbt er in der moldauischen Stadt Bender, die heute zu Transnistrien gehört.

Als Andrij Wojnarowskyj sieben Jahre später nach Hamburg kommt, ist er auf der Durchreise nach Stockholm, wo er hofft, Zugriff auf das Erbe seines Onkels zu erhalten. Zuvor hat der versierte Politiker aber bereits in Breslau, Wien und anderen europäischen Metropolen versucht, eine westliche Koalition gegen Russland auf die Beine zu stellen, freilich ohne jeden Erfolg. In seinen Unabhängigkeitsplänen spielte übrigens auch der Khan der Tataren auf der Krim eine wichtige Rolle.

Misstrauisch beobachten russische Geheimdienstler Wojnarowskyjs Hamburg-Besuch. Dann schlagen die Agenten zu, locken den Ukrainer in einen Hinterhalt, entführen den vermeintlichen Verräter und schaffen ihn in einer Kutsche, deren Fenster verhängt sind, in das Gebäude der russischen Gesandtschaft. In dem Haus, das exterritorial ist, wird er wochenlang festgehalten, es gibt eine heftiges diplomatisches Tauziehen. Schließlich schaltet sich Marie Aurora Gräfin von Königsmarck, eine Ex-Geliebte von August dem Starken, in die Verhandlungen ein. Sie gilt als geschickte Diplomatin und unterhält beste Beziehungen zu mehreren europäischen Mächten. Als sie nach Gesprächen mit russischen Diplomaten die Bürgschaft dafür übernimmt, dass Wojnarowskyj nichts geschehen werde, erklärt dieser sich zur Überstellung nach Russland bereit. Dort ist die Garantie der schönen Gräfin allerdings nichts mehr wert. Mit viel Glück entkommt er der Todesstrafe, wird für sieben Jahre in der Peter-Pauls-Festung in Sankt Petersburg inhaftiert und später nach Jakutien im asiatischen Teil Russlands, den hintersten Winkel des Zarenreichs, verbannt.

„Für Russland war der Neffe Masepas ein Verräter, der eine Militärallianz gegen das Zarenreich zusammenbringen wollte“, sagt der Historiker Frank Golczewski, der an der Hamburger Universität Osteuropäische Geschichte lehrt. Sein Urteil über das Agieren des damaligen Hamburger Senats fällt nicht schmeichelhaft aus: „Dass ihn russische Agenten bei seinem Hamburg-Besuch einfangen und sechs Wochen im Hamburger Gesandtschaftsgebäude festhalten konnten, wonach er dann ‚freiwillig‘ nach Russland zurückkehrte, um den Rest seines Lebens im Gefängnis und in der Verbannung zu verbringen, zeugt entweder vom Unvermögen oder von der geringen Bereitschaft der Hansestadt, hier einzuschreiten.“

Die Gedenktafel an der Großen Johannisstraße 13 erinnert seit April 2011 an Andrij Wojnarowskyj. Angebracht wurde sie von der Vereinigung der Ukrainer Norddeutschlands, dem Generalkonsulat und dem Ukrainischen Nationalmuseum „Davniy Halytsch“. „Mit dem Haus selbst hat Wojnarowskyj zwar nichts zu tun, doch sein damaliges Hamburger Quartier befand sich nur unweit entfernt davon“, sagte Rostyslav Sukennyk, der Vorstandsvorsitzende der Vereinigung, dem Abendblatt.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen gewinnt das Schicksal dieses in Deutschland bislang völlig unbekannten ukrainischen Politikers eine etwas makabre Aktualität.