Sie wurden in den Jahren nach 1945 geboren und hatten häufig eine lieblose Kindheit voller Gewalt. Viele Nachkommen der Kriegskinder sind geprägt vom Trauma ihrer Eltern. Einige haben sich in Selbsthilfegruppen zusammengetan. Von Hanna Kastendieck

Dieser Traum – immer wieder. Er sieht seinen Vater. Je mehr er sich ihm nähert, desto klarer wird das Bild. Dort liegt er. Der Mann, der ihn aufgezogen, geprägt, geprügelt hat. Er gleicht einem Raubtier. Die Bedrohung ist spürbar. Jeden Moment könnte er angreifen. Doch er rührt sich nicht. Der Junge schaut genauer hin. Sieht, dass es sein Vater ist, der im Sterben liegt. Er könnte etwas tun. Doch stattdessen lässt er ihn verrecken.

Jahrelang waren sie da. Träume wie diese. Vom Vater, immer schrecklich, immer voller Verzweiflung. Jörg Erb erinnert sich genau daran. Er ist 54 Jahre alt. Mehr als 40 Jahre seines Lebens haben ihn Ängste wie diese begleitet. Seinen Vater erlebte er als Bedrohung. Als übermächtiges Familienoberhaupt. Lieblos, hart. Es hat lange gedauert, bis Jörg Erb begriffen hat, dass er etwas tun muss, um sein Leben in den Griff zu bekommen. Dass er bereit sein muss, zurück in die Kindheit zu gehen und seine Geschichte aufzuarbeiten, um seine Probleme zu verstehen und lösen zu können. Zu begreifen, warum er stets voller Zweifel und Scham war, nie stark genug, um eine Sache zu Ende zu bringen. Immer auf dem Weg, nie angekommen. Warum er das Gefühl hatte, verkehrt zu sein, es verdient zu haben, für Dinge, die er tat oder unterließ, bestraft zu werden. Handlungsunfähig, wenn es darum ging, im Beruf Erfolge zu erarbeiten, eine eigene Familie zu gründen. Jörg Erb musste 41 Jahre alt werden, bis er begriff, dass er in diesem Leben nur Wurzeln schlagen würde, wenn er seine eigene Wurzellosigkeit in den Griff bekäme. 2001 suchte er sich einen Therapeuten. Sieben Jahre lang arbeiteten die beiden zusammen.

Erb weiß heute, warum er so und nicht anders tickt. Er ist selbstsicherer geworden, packt Dinge an und bringt sie zu Ende. Er fragt nicht, was andere über ihn denken, geht seinen Weg erhobenen Hauptes. Und er hat einen Begriff gefunden für seine Rolle: Kriegsenkel, so nennt sich die Generation derer, die in den Jahren nach dem Krieg geboren wurden und deren Eltern selbst im Krieg aufgewachsen und vom Nationalsozialismus in Deutschland maßgeblich geprägt worden sind. Sie haben in ihrer Kindheit und Jugend häufig Strenge und Lieblosigkeit erfahren. Das Leid der traumatisierten Eltern aushalten und abfedern müssen. Sie wurden in der Schule gemaßregelt, von den Vätern geschlagen, von ihren Müttern in den Keller gesperrt. Sie fühlten sich schuldig, lernten, zu funktionieren, so, wie andere es von ihnen verlangten. Sie verleugneten ihre eigene Persönlichkeit, den eigenen Willen. Und verloren das Gespür für ihre eigene Stimme.

Jörg Erb kennt viele, denen es so geht wie ihm. Menschen im Alter zwischen 40 und 70 Jahren, die zutiefst geprägt sind durch die Ereignisse, die Geschichten ihrer Eltern und weiterer Familienangehöriger, die in Trümmern, umgeben von Schuld, Ohnmacht, Tod, Verlust und Angst, geboren wurden oder ihre Kindheit und Jugend verbracht haben. Regelmäßig trifft er sich mit ihnen in den Räumen des Flaks in Altona. Die Selbsthilfegruppe „Kriegsenkel“ ist eine von drei Gruppen im Raum Hamburg. Hier kommen Betroffene zusammen, um über ihre Erfahrungen und Probleme zu reden, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Auch Angelika Grabow hat eine solche Gruppe gegründet. Sie ist 60 Jahre alt, Heilpraktikerin und systemische Familientherapeutin. Seit 18 Jahren ist sie in ihrer Praxis immer wieder mit dem Thema Kriegskinder und Kriegsenkel konfrontiert worden. Irgendwann war ihr klar, dass auch sie eine Betroffene ist. Grabow nennt ihre Generation „die geprügelte Generation“. Sie spricht von „nationalsozialistischer Pädagogik“. „Die Babys wurden schreien gelassen, die Größeren verprügelt. Kinder hatten keine Rechte. Viele von uns sind mit Züchtigungen in der Schule aufgewachsen. Aus Angst haben alle geschwiegen.“ Angelika Grabow hat ihren Vater nicht kennengelernt. Ihre Mutter, Jahrgang 1934, hat nie über ihn gesprochen. Und wenn sie nachfragte, wurde sie zurechtgewiesen. So, als sei es eine Schande, über ihren Erzeuger zu sprechen. Grabow glaubt, dass sie das Ergebnis einer Vergewaltigung gewesen ist. Vielleicht. Sie hat aufgehört zu spekulieren. Aufgehört, auf eine Antwort zu warten. Im November starb ihre Mutter. „Seitdem muss ich nicht mehr kratzen und wühlen“, sagt sie.

In den Gesprächsgruppen geht es darum, herauszukriegen, warum die eigenen Eltern so waren ,wie sie waren. Zu verstehen, welche Spuren das Erleben von Flucht, Hunger, Bombenangriffen und der Verlust von Angehörigen Spuren im Denken, Fühlen und Verhalten der Kriegskinder hinterlassen haben. Und über das Schweigen in den Familien zu sprechen. Denn auch das gehörte vielerorts dazu. Gefühle, Zweifel, Unsicherheit, Geschehnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit wurden zu Hause nicht thematisiert. Wie die meisten in der Gruppe fühlt auch Grabow sich irgendwie schuldig. Nicht unmittelbar, so wie es die Täter im Nationalsozialismus gewesen sind, nicht an zweiter Stelle, wie es jene waren, die alles verleugneten. „Wir tragen als Nachkommen die dritte Schuld“, sagt sie. „Wir sind jene, die alles wissen, aber nicht darüber sprechen können.“ Auch Jörg Erb trägt dieses Schuldgefühl in sich. „Mein Vater konnte zeit seines Lebens keine Nähe zu mir zulassen“, sagt er. Erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1984 habe es einen Moment gegeben, wo er ihn alles hätte fragen können. Sein Vater lag im Sterben. Und plötzlich gab es eine große Nähe. „Ich habe es nicht gewagt.“

Auch Angelika Grabow hat es irgendwann aufgegeben, mit ihrer Mutter sprechen zu wollen. Immer wenn es zu Nachfragen kam, folgte ein Kontaktabbruch. „,Lass mich in Ruhe‘, war ihre Antwort“, sagt Grabow. „,Du bist doch heil, warum gehst du dem nach?‘“ Grabow ist sich sicher, dass die Kriegsenkel das mittragen, was ihre Eltern nicht verarbeitet haben. „Transgenerationale“ nennt man diesen Prozess, wenn durch spürbares Schweigen, Prügel, Aggression die Traumata an die nächste Generation weitergegeben werden. Was bleibe, seien Schuldgefühle, die nur schwer zuzuordnen seien, so Grabow. Und das Gefühl: „Ich muss verkehrt sein.“

In der Gruppe lüften die Teilnehmer gemeinsam den Teppich des Schweigens

In der Selbsthilfe-Gruppe erfahren die Teilnehmer, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind. Sie lüften gemeinsam den Teppich des Schweigens, der über alles gelegt wurde. „Wir sprechen darüber, dass unsere Eltern die Trümmer des Krieges mit den Händen beiseitegeschafft haben. Wir, als ihre Kinder, mussten uns mit den seelischen Trümmern beschäftigen“, sagt Jörg Erb. Er ist zweifacher Vater. Als seine Kinder zu spüren begannen, dass mit ihrem Vater etwas nicht stimmt, wurde ihm klar, dass es höchste Zeit war, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Damit die Kette unterbrochen wird. Und nicht auch noch die kommende Generation Schaden nimmt. Die Therapie hat ihm geholfen. Mit 45 Jahren hat er zum ersten Mal eine Ausbildung tatsächlich abgeschlossen. Seitdem arbeitet er als systemischer Berater und freischaffender Künstler. Manchmal fährt er Taxi. Wann immer er eine Möglichkeit findet, thematisiert er die Vergangenheit. Seine eigene und die seiner Eltern. „Wir brauchen Stolpersteine und Gedenkstätten“, sagt er. „Und wir müssen die Alten anregen, über ihre Vergangenheit offen zu sprechen, ohne Scham. Wenn sie nicht reden, bleibt die Geschichte eine Lüge.“ In seinen Liedern, die er schreibt und regelmäßig auf der Bühne vorträgt, geht es auch um das Gedenken. Dass er mit seiner Musik nur mäßig Erfolg hat, schmälert heute nicht mehr sein Selbstbewusstsein. „Ich habe gelernt, mit meiner Situation souverän umzugehen“, sagt er, „und akzeptiere, dass ich so bin, wie ich bin.“ Seitdem haben die Albträume aufgehört.

Kontakt zu den Selbsthilfegruppen gibt es über KISS Hamburg (Kontakt- und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen), Telefon 39 57 67.