Ein stolzer Vater notiert, wie seine einzige Tochter heranwächst. Sie wird 1929 in Preßburg geboren. Doch bald schon bestimmen die unruhigen politischen Verhältnisse das Leben der jüdischen Familie. Die wird im März 1942 deportiert.

In einem Papiergeschäft in Preßburg kauft sich Bela Weichherz ein schönes Buch mit marmoriertem Einband und festen weißen Seiten, das Tagebuch für sein ungeborenes Kind. Er ist Reisender der slowakischen Philips-Werke. Die Familie wohnt in der Hluboká ulcia Nummer 5 in Preßburg. Alle jüdischen Familien hier sprechen und schreiben Deutsch, die Sprache der Kultur. Jahre später findet die Nichte in einem Versteck das Tagebuch. Es ist alles, was von der dreiköpfigen Familie Weichherz geblieben ist.

1. Dezember 1929. Um 6 Uhr 45 Minuten ist unsere Tochter angelangt. Da sie nicht gleich atmen wollte, bekam sie vom Onkel Doktor eine Tracht Prügel. Sie fing hierauf an, bitterlich zu weinen, und sog gleichzeitig die erste Luft ein.

21. Dezember 1929. Kitty hat Heitelblattern ( Windpocken ) bekommen. Das Sehen macht bereits Fortschritte, der vorgehaltenen Hand folgt das Auge. Kitty kann schon den Kopf wenden. Die Heitelblattern verblassen unter Borax und Dermatol.

27. Februar 1930. Kitty bekommt von Onkel Artur ein Sparkassenbuch mit einer Einlage von 500 Kc ( 500 tschechoslowakische Kronen waren damals 43 Reichsmark). Sie weint ganze Tage lang nicht, und die Nachtruhestörung ist für sie vollkommen unbekannt.

1. April 1930. Kitty hat es schon sehr gern, wenn man ihr die Hand küsst. Man kann das Küssen nicht oft genug wiederholen, und wenn man aufhört, zieht sie selbst das Händchen zum Mund.

7. Mai 1930. Heute hat das Kind zum ersten Mal "Pa-pa" gesagt und wiederholte das Wort, wenn man es ihm vorsagte.

5. Juli 1930. Das Kind hört schon auf seinen Namen, schlägt die Händchen zusammen, wenn man ihm sagt, es soll klatschen. Das Kind fürchtet sich seit einiger Zeit vor fremden Leuten, speziell vor Frauen, denn Herren bevorzugt sie seit jeher.

1. Dezember 1930. Kittys erster Geburtstag. Wir werden bald eine erwachsene Tochter haben. Sie läuft schon, an beiden Händen geführt, sicher herum.

2. Februar 1931. Esti, die Mutter, sang in den letzten Tagen oft den neuen Schlager "Adieu, mein kleiner Gardeoffizier, adieu". Sie singt mit und sagt "adie", aber auch dann, wenn man nur die Melodie singt.

28. Dezember 1931. Wir haben ein neues Mädchen. Emma heißt sie und ist Stockungarin. In den ersten Tagen haben die beiden aneinander vorbeigeredet, Kitty deutsch und Emma ungarisch. Seither hat Kitty die Gewohnheit, wenn sie allein spielt, unverständliches Zeug zusammenzuquatschen. Das ist für sie "ungarisch". Es ist erstaunlich, wie rasch so ein kleines Kind lernt. Sie verständigt sich jetzt schon vollkommen in zwei Sprachen, Deutsch und Slowakisch.

23. Oktober 1932. Heute hat Kitty das erste richtige Märchen zu hören bekommen: Rotkäppchen. Sie war so entzückt von den Geschichten, dass sie den Mund zuzumachen vergaß. Selbstverständlich haben darauf die Puppen das Märchen anhören müssen.

5. März 1933. Kitty hatte keinen guten Winter. Grippe. "Papi, ich hab dich so gern, muss ich noch lange den Umschlag tragen?" "Nein, mein Kind." Alle ihre Krankheiten mussten natürlich auch ihre Puppen mitmachen. Sie bekamen auch Arzneien und Umschläge.

Seit dem 30. Januar 1933 herrschen im Nachbarland Deutschland die Nazis. Sofort wurde dort mit Gesetzentwürfen zur Bekämpfung der Juden begonnen: Verbot von Mischehen, Entlassung jüdischer Beamter, Boykott jüdischer Geschäfte. Im Ausland nahmen die Juden kaum wahr, welche Gefahr für ihr Leben hier ausgebrütet wurde.

15. Mai 1933. Kitty hat von Rudica-Tante ein Kofferchen bekommen. So oft ich mich zu meiner wöchentlichen Tour rüste, hält auch sie ihr Kofferchen und packt Puppenwäsche und Spielzeuge ein. Ihr ständiges Ziel ist Cadca ( Cadca, ein Dorf im Norden an der polnischen Grenze, in dem die Großeltern wohnten und wo Kittys Familie regelmäßig Ferien machte).

25. Juni 1933. Unlängst war sie unartig und sollte mich um Verzeihung bitten. Mutti sagte: "Kitty, sag dem Papa, sei nicht böse!", darauf erwidert sie: "Mit einem Wort, ich sag nichts!" Mutti redet weiter: "Schau Kitty, geh zu Papa, und damit ist die Sache erledigt." Da kommt sie und sagt: "Papa, sei nicht böse, - und damit ist die Sache erledigt."

3. Januar 1935. Kitty kommt, nachdem sie erwacht ist, zu mir mit der Frage: "Papa, wann wirst du mir das Kino kaufen?" "Was für ein Kino, mein Kind?", doch ahnte ich, dass Kitty eine Laterna magica meinte. "Du hast mir doch versprochen, dass du mir ein Kino kaufen wirst, Papa." "Wann Kleines?" "Heute." "Heute konnte ich es dir doch gar nicht versprechen, denn wir haben doch noch gar nicht miteinander geredet." Da fängt sie an zu weinen und sagt: "Aber ja, Papa, wir waren doch vor dem Friedrichspalais, und die Mutti ist im Bicykle gefahren, und da hast du mir versprochen, ein Kino zu kaufen." Ich verstand, dass es ihr Traum gewesen war, der sich Kitty zur Gegenwart verflochten hatte, und sie war nicht davon abzubringen, dass alles Wirklichkeit war. Die Folge war, dass ich dem Kind ein Kino kaufte, und ihre Glückseligkeit war vollkommen.

13. Mai 1936. Kitty fielen die ersten zwei unteren Schneidezähne aus. Jetzt kommt für sie eine schlechte Zeit mit dem ständig zahnlosen Mund.

1. September 1936. Heute war nun der erste Schultag zur Staatsschule in der Zuckergasse. Große Aufregung und selbstverständlich nichts gegessen.

1. Februar 1937. Kitty brachte zum Halbjahr einen "Einser" nach Hause. Sie liest und rechnet ausgezeichnet. Mit dem Schreiben hapert es ein wenig. Mit dem Benehmen ist aber die Lehrerin sehr unzufrieden. Sie ist unachtsam, laut und quatscht zu viel.

18. Juni 1938. Kitty liest alles in vier Sprachen, Slowakisch, Tschechisch, Deutsch und Ungarisch. Zu ihrem Nachtgebet setzte sie heute ein Sprüchlein hinzu: "Lasse die Mutter und den Papa und alle, die ich auf der Welt kenne, noch lange leben und gesund sein." Zu den unruhigen politischen Verhältnissen fragt Kitty sehr viel. Sie ist schon selbst darauf gekommen, dass es jetzt nicht gut ist, Jude zu sein. Bis jetzt war sie unter dem Einfluss der Schule Slowakin. Jetzt weiß sie schon, dass sie außerdem auch Jüdin ist.

"Sudetenkrise": Durch Drohung mit Krieg erzwang Hitler von der Tschechoslowakei das von drei Millionen Deutschen bewohnte Sudetengebiet.

2. Oktober 1938. Das Schuljahr 1938/39 hat noch, nach schön und ruhig verbrachten Ferien, normal begonnen. Dann kamen böse Zeiten, deren Ende unabsehbar ist. Deutschland besetzte Teile der Republik, insgesamt 1/3 des Gesamtgebietes.

6. Oktober 1938. In der Slowakei begann die Judenhetze. Hauptsächlich dort, wo Deutsche wohnen, also in Preßburg. Nach deutschem Muster wurde eine "Hlinka garda" organisiert.

Die "Hlinka-Garden" waren paramilitärische Organisationen nach Art der deutschen SA und machten antisemitische Überfälle, zum Beispiel auf die Synagoge. Benannt nach dem verstorbenen Führer der Slowakischen Volkspartei, Andr Hlinka. Am 12. Oktober 1938 vereinbarten slowakische Regierungsvertreter mit Göring in Berlin, dass in der Slowakei "das Judenproblem ähnlich wie in Deutschland gelöst werde".

14. März 1939. Kitty wurde Mitte Februar mit mehreren anderen Kindern aus der staatlichen Schule entfernt und ist mit einem verzweifelten Schluchzen nach Hause gekommen. Sie wurde dann in die Neologenschule eingeschrieben, wo sie das Schuljahr beendete. Heute ist die Slowakei zu einem selbstständigen Staat erklärt worden.

Am 11. März 1939 telegrafierte Hitlers Sonderbeauftragte Edmund Veesenmayer aus Preßburg: "Alles läuft nach Plan. Ich habe alle Juden in der Hand." Am 14. März 1939 marschierte die Wehrmacht in Prag ein. Die Slowakei stand "unter dem Schutz des Deutschen Reiches".

30. März 1939. Maßnahmen gegen die Juden wurden immer schärfer. Ich war zwischen den Ersten, die ihren Posten verloren haben. Am 30. März wurden von Philips sämtliche Juden entlassen.

Am 18. April 1939 verordnet die slowakische Regierung die Kennzeichnung der Juden. Sie werden aus allen staatlichen Ämtern ausgeschlossen.

1. September 1939. Wir sind am 15. Juni 1939 nach Cadca gefahren, haben kein eigenes Heim mehr. Die Grenzen starren von deutschem Militär. Polen wurde in der Nacht auf den 1. September angegriffen. In Cadca sahen wir die unendlichen Reihen von Soldaten marschieren. Später kamen in verkehrter Richtung die Verwundeten-Transporte.

Ostern 1940. Kitty erkrankte an Scharlach. Das Zimmer der Mama wurde für die Kranke isoliert, und Esti sperrte sich mit dem Kind für sechs Wochen dort ein. Aber Esti hatte einen Ohnmachtsanfall, verlor ihren letzten Rest von Kräften und wurde bettlägerig. Mutti wurde so schwach, dass sie nicht essen und schlafen konnte, und selbst die wenigen Schritte vom Zimmer in den Garten waren eine zu große Anstrengung.

1. März 1941. Kitty geht wieder in die fünfte Klasse der hiesigen jüdischen Volksschule. Judenkinder dürfen nur noch acht Volksschulklassen absolvieren. Ab heute ist den Juden der Ausgang nach 8 Uhr verboten. Nur dringende Gänge wie zum Arzt oder zur Apotheke werden geduldet.

Am 1. Dezember 1940 organisiert SS-Hauptsturmführer Dieter Wisliceny als "Judenberater" in Preßburg die Deportationen. In der Slowakei leben 88 951 Juden.

22. Juli 1941. Sämtliche jüdischen Männer von 18 bis 50 Jahren wurden zum Arbeitsdienst ausgemustert. Wir waren alle tauglich und begannen unsere Arbeit ohne Lohn sofort im Tal Riska, von 7 bis 16 Uhr. Unsere Arbeit besteht aus dem Ausgraben eines neues Bettes für die Riska, und neben demselben wird eine neue Straße gebaut.

1. Dezember 1941. Im Sinne des neuen Kodex wurde die Bezeichnung der Juden angeordnet: ein gelber Stern von 6 cm Größe mit blauem Rand.

Im September 1941 müssen alle Juden ihr Vermögen anmelden, die mehr als 5000 Kronen besitzen (430 Reichsmark). Häuser und Grundstücke werden beschlagnahmt. Alle Briefe von Juden müssen einen Judenstern tragen und dürfen von der Polizei geöffnet und vernichtet werden. Im Dezember 1941 werden bei den Juden alle Schreib- und Rechenmaschinen beschlagnahmt. Bis Januar 1942 werden in der Slowakei 9950 jüdische Betriebe liquidiert und 2100 zwangsverkauft.

1. März 1942. Wir müssen alle Wollsachen abgeben sowie Anzüge und Mäntel. Der Jude darf nur drei Anzüge, einen Winter- und einen Sommermantel haben. Ferner alle Bettwäsche über drei Garnituren pro Person. Kitty entwickelt sich zur Jungfrau. Sie hat schon einen zarten Brustansatz. Es zeigt sich, dass wir bei ihrer Erziehung versäumt haben, ihr das Schamgefühl beizubringen. Sie begreift nicht, warum sie sich vor Männern nicht entkleiden soll, besonders soweit es mich betrifft.

Am 25. März 1942 beschloss der slowakische Landtag ein Gesetz über die Deportation der Juden.

15. März 1942. Die Deportationen haben begonnen. Eines ist sicher, dass alle Transporte gegen Polen die Grenze verlassen haben. Offiziell wurde bekannt gegeben, dass die bisher eingezogenen Männer und Frauen als Pioniere hinausgehen, um die Ansiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung der Slowakei vorzubereiten. Ich wünsche nur eines: dass wir mit Mutti und Kitty gemeinsam gehen können. Esti ist schwach und furchtsam. Sie könnte sich allein nicht helfen. Und Kitty ist zwar für ihr Alter genug kräftig, aber man will doch einem Kind in dieser schweren Lage zur Seite stehen.

Hier bricht das Tagebuch ab. Die Familie Weichherz, Vater Bela, Mutter Esther und Kitty, wird gemeinsam deportiert, wahrscheinlich nach Majdanek. Sie kehren nicht zurück. Am Ende des Krieges sind 65 000 slowakische Juden ermordet.