Dortmund. Ein geistig Behinderter kam für einen Kindermord in die Psychiatrie. Womöglich hat er ihn nie begangen. Der Fall wird neu aufgerollt.

Den Kopf gesenkt, das Gesicht hinter einer Jacke versteckt: Als der 53-jährige Dirk K. zu seinem Platz auf der Anklagebank geht, scheint es fast so, als wolle er sich verkriechen. 1986 ist er diesen Weg schon einmal gegangen. Danach war er 30 Jahre lang eingesperrt. Die Richter waren überzeugt, dass er ein Kind ermordet hatte. Aber war er wirklich der Täter? Seit Donnerstag wird der Fall vor dem Dortmunder Schwurgericht neu aufgerollt. Es soll geklärt werden, was 1985 in Essen wirklich geschah.

Der sieben Jahre alte Nara-Michael war am 22. April vom Spielen nicht nach Hause zurückgekehrt. Intensive Suchaktionen brachten am nächsten Morgen die traurige Gewissheit. Unter einem Gebüsch im Wald lag die Leiche des Kindes – nur 300 Meter entfernt vom Elternhaus.

In geschlossener Psychiatrie

Schon nach wenigen Tagen präsentierte die Polizei den mutmaßlichen Mörder. Sie nahm Dirk K. fest, einen damals 21 Jahre alten Mann aus der Nachbarschaft. Es hieß, dass der geistig Behinderte schon früher Jungen angesprochen habe. Der Fall schien geklärt. Bei der Polizei soll Dirk K. ein Geständnis abgelegt haben, das er später auch wiederholte. Doch dann widerrief er es. Das Essener Schwurgericht hielt ihn im November 1986 dennoch für den Täter. In nichtöffentlicher Sitzung sprach es ihn zwar wegen Schuldunfähigkeit frei, wies ihn aber wegen seiner Gefährlichkeit für die Allgemeinheit in die geschlossene Psychiatrie ein.

Hinter den Kulissen spielte sich ein Justizkrimi ab. Denn 1996 meldete sich ein Mann, der ebenfalls in einer Therapieeinrichtung saß. Er bekannte sich zu dem Mord. Doch Polizei und Justiz winkten ab. Es sei kein plausibles Geständnis, passe auch nicht zu den Details des Falls. Später widerrief der Mann dieses Geständnis.

Wiederaufnahme des Verfahrens

Wieder geschah nichts, bis 2012 der Hamburger Rechtsanwalt Achim Lüdeke den Fall übernahm. Er entdeckte in der Akte das Geständnis des anderen Mannes und beantragte am Landgericht Dortmund die Wiederaufnahme des Verfahrens. Offene Türen rannte er damit bei der Justiz nicht ein. Das Landgericht Dortmund lehnte den Antrag ab, es hielt das zweite Geständnis ebenfalls für nicht plausibel. Anwalt Lüdeke legte Beschwerde ein.

Diesmal hatte er Erfolg. Das Wiederaufnahmeverfahren wurde genehmigt. Dirk K. kam Anfang 2016 frei, weil das Gericht angesichts des zweiten Geständnisses erhebliche Zweifel an seiner Täterschaft hatte. Jetzt wird geprüft, wer Nara-Michael sexuell missbraucht und ermordet hat. Doch wer will heute noch rekonstruieren, wie das frühere Geständnis von Dirk K. bei der Polizei zustande kam? Zeugen sind verstorben, auch Richter, Polizisten, Staatsanwälte. Und diejenigen, die noch leben, werden Mühe haben, sich vor Gericht an die Einzelheiten eines 32 Jahre zurückliegenden Mordes zu erinnern. Auf diese Beweismittel wird kaum ein Gericht eine zweifelsfreie Verurteilung stützen können.

Unschuldig weggesperrt

Ob die Justiz Fehler gemacht hat, das bleibt im Verborgenen – die Öffentlichkeit wurde ausgeschlossen. Verteidiger Achim Lüdeke will nicht von einem Justizskandal sprechen. Aber dass jemand so lange Zeit unschuldig weggesperrt wurde, habe er noch nie erlebt. „So etwas kennt man ja sonst nur aus amerikanischen Filmen“, sagte Lüdeke. Bislang hat die zuständige Staatsanwaltschaft den anderen Mann nicht angeklagt.

Der Essener Fall weist Ähnlichkeit mit dem Fall um Gustl Mollath auf. Im Jahr 2002 hatte die Ehefrau den Nürnberger wegen Körperverletzung angezeigt. Mollath hatte die Vorwürfe stets zurückgewiesen. In zwei Verfahren attestierten ihm Gutachter eine psychische Störung. 2006 wurde er zwar wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen, jedoch in die Psychiatrie eingewiesen. Wegen neuer Erkenntnisse wurde sein Fall wurde neu aufgerollt: Im August 2014 sprach das nun zuständige Landgericht Regensburg Mollath frei.