Berlin. Die Kanzlerin habe in Europa viel Vertrauen verspielt – sagt Herausforderer Schulz. Er fordert: Deutschland muss mehr für Europa tun.

Der Kanzlerkandidat lässt sich so schnell nicht entmutigen. Kurz vor der Präsentation seines „Zukunftsplans“ muss Martin Schulz einen neuen Dämpfer hinnehmen – die jüngste Sonntagsumfrage sieht die SPD bei gerade 25 Prozent, die Union liegt zehn Wochen vor der Bundestagswahl mit 38 Prozent weit vorne. Doch der SPD-Chef gibt sich am Sonntag im Willy-Brandt-Haus kämpferisch: „Ich möchte ein Kanzler sein, der die Probleme anpackt“, ruft Schulz. „Ich bin mir sicher, Deutschland kann mehr.“

Um den Anspruch zu unterstreichen, legt der Kanzlerkandidat in der SPD-Zentrale vor ausgewähltem Publikum einen Zehn-Punkte-Plan vor, der den Weg zu einem „modernen Deutschland“ weisen soll – und mit dem Schulz die Kanzlerin endlich in jene inhaltliche Konfrontation treiben will, der Angela Merkel bisher konsequent aus dem Weg geht. Mehr Investitionen, mehr Bildung, mehr Europa lauten die Schlagworte.

Solidarität in Europa

Das meiste ist bereits bekannt, schließlich hat die SPD erst Ende Juni ihr Wahlprogramm beschlossen. Doch neben ein paar neuen Ideen markiert Schulz vor allem den Anspruch, die Kanzlerin jetzt in der Europapolitik herauszufordern: Merkel habe nicht nur mit einer „Politik des Durchwurstelns und der Eigensinnigkeit“ viel Vertrauen in Europa verspielt. Es sei zudem ein „absoluter Skandal“, dass Merkel erst nach der Wahl sagen wolle, was sie mit Europa vorhabe, klagt Schulz.

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    Der SPD-Chef dagegen wird konkret: „Deutschland muss bereit sein, mehr für Europa zu tun und mehr in den EU-Haushalt einzuzahlen“, verlangt Schulz. „Ja, ich will mehr Geld für Europa ausgeben.“ Doch müsse auch insgesamt mehr Solidarität in Europa herrschen: Länder wie Polen und Ungarn sollen finanzielle Nachteile in Kauf nehmen, wenn sie die Aufnahme von Flüchtlingen verweigern. „Wer keine Flüchtlinge aufnimmt, wer einen ruinösen Steuerwettbewerb betreibt, der verhält sich nicht solidarisch“, sagt Schulz. Wenn künftige Haushalte der EU nicht auf dem Prinzip der Solidarität beruhten, „werde ich als Kanzler mein Veto einlegen“.

    Staatliche Investitionspflicht

    Das Thema liegt dem früheren EU-Parlamentspräsidenten erkennbar am Herzen, doch hatte Schulz in den letzten Monaten Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) dieses Feld überlassen. Jetzt prescht er selbst vor. Am Donnerstag reist er nach Paris, wird dort von Präsident Emmanuel Macron empfangen. Schulz stellt sich hinter Forderungen Macrons nach einem eigenen Haushalt der Euro-Zone oder einem europäischen Finanzminister.

    Doch weiß der Kanzlerkandidat, dass Macron sich bislang darauf einstellt, in den kommenden Jahren diese EU-Reformen mit einer Kanzlerin Merkel durchzusetzen – die Vorbereitungen in Berlin und Paris laufen bereits. Einige neue Ideen hat Schulz für die Wirtschaftspolitik dabei. So will er die Forderung nach mehr Geld für staatliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung mit dem Vorschlag für einen entsprechenden Mechanismus unterstreichen: Über eine staatliche Investitionspflicht soll eine gesetzliche „Mindestdrehzahl“ bei derartigen Ausgaben der öffentlichen Hand verankert werden. Schulz schwebt eine Vorgabe analog zu der im Grundgesetz festgeschriebenen Schuldenbremse vor.

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      Jüngste Finanzreform

      Präziser als das Wahlprogramm plädiert Schulz auch für ein sogenanntes Chancenkonto: Jedermann soll ein staatlich finanziertes Konto von bis zu 20.000 Euro bekommen, das etwa für die Weiterbildung genutzt werden könnte. Zu den Milliarden-Kosten dieses Vorschlags äußert er sich nicht. Aufmerksamkeit verspricht sich Schulz auch von der Forderung nach eine digitalen „Deutschlandportal“, das viele Behördengänge überflüssig machen soll. Allerdings: Ein Portalverbund aus Online-Anwendungen der öffentlichen Verwaltung hatten Bund und Länder im Zuge der jüngsten Finanzreform schon vereinbart. Und just am Vortag hatte Merkel ihrerseits angekündigt, die Bürger sollten Verwaltungsangelegenheiten künftig über ein zentrales Internetportal erledigen können.

      Die ganz große Inszenierung bleibt diesmal aus. Schulz gibt sich in seiner 50-minütigen Rede kämpferisch, verzichtet aber auf große rhetorische Effekte. Dennoch erklärt er wieder öfter als in den vergangenen Wochen, er wolle Kanzler werden. Schulz weiß, dass er jetzt keine Zweifel an seinem Siegeswillen zeigen darf.

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        Mögliche Niederlage

        Doch in der SPD-Spitze schwindet die Hoffnung, dass sich die Stimmung noch einmal drehen lässt – zumal nach den Krawallen beim G20-Gipfel das Thema innere Sicherheit in den Fokus rückt, bei dem die SPD traditionell wenig gewinnen kann. Deshalb wird in der Parteispitze intern längst über Konsequenzen einer möglichen Niederlage diskutiert. Die Rolle als Juniorpartner in einer großen Koalition, noch vor Monaten eine Horrorvision für viele Genossen, gilt Skeptikern schon als bestmögliche Option.

        Je schlechter das Ergebnis, desto radikaler werde der Personalumbruch, heißt es. Aktuell ist der Kanzlerkandidat unumstritten – doch eine Garantie, dass sich der Vorsitzende bei einer krachenden Niederlage im Amt halten kann, ist das nicht. Schulz kennt die Spekulationen, aber er blendet sie aus: In Zeiten großer Umbrüche reiche es nicht aus, nur zu träumen, erklärt er in seinem Zukunftsplan. Deshalb stelle er konkrete Vorhaben vor, „die ich als Bundeskanzler anpacken will“.