London. Der Anschlag von London macht die Parlamentswahl am Donnerstag schwer kalkulierbar. Die Chancen von Labour-Chef Jeremy Corbyn wachsen.

Vor einem Jahr sah es gar nicht gut aus für Jeremy Corbyn. Der Chef der britischen Labour-Partei schien seinem Ende nah. Genau genommen war er politisch schon so gut wie tot. Nach dem Referendum über den Brexit warf ihm die Mehrheit der Labour-Abgeordneten vor, sich zu wenig für den Verbleib des Landes in der EU eingesetzt zu haben.

Corbyn sei zu führungsschwach. Seine eigene Fraktion im Unterhaus verweigerte ihm als Chef die Gefolgschaft und wählte ihn ab. Begründung: Mit ihm an der Spitze werde Labour niemals eine Wahl gewinnen. Das war im Juni 2016.

May hat in vergangenen Tagen Fehler gemacht

Ein Jahr später sieht es so aus, als ob derselbe Jeremy Corbyn, der seine Abwahl damals „bedeutungslos“ nannte und auf seinem Stuhl einfach sitzen blieb, dass also genau dieser Corbyn möglicherweise Premierminister werden könnte.

An diesem Donnerstag wählen die Briten ein neues Parlament, und es gibt Umfragen, die einen Regierungswechsel als möglich erscheinen lassen. Vor allem aber gibt es eine amtierende Premierministerin, die diese Neuwahl zwar selbst ausgerufen hat, die sich im Wahlkampf aber sichtlich schwertut. Theresa May hat in den vergangenen Tagen Fehler gemacht, sie kommt nicht gut mit den Wählern in Kontakt. Auf den letzten Metern vor der Wahl stellt sich damit die Frage: Wird Großbritannien bald wieder sozialdemokratisch regiert? Wird Jeremy Corbyn – nach den Brexit-Befürwortern und Donald Trump in den USA – der nächste Überraschungssieger?

Die Premierministerin ist noch populärer

Mit den Umfragen auf der Insel ist das so eine Sache. Es gibt tatsächlich eine Erhebung vom vergangenen Sonntag, in der Corbyns Labour-Partei bis auf einen Prozentpunkt an die Konservativen herangerückt ist. Es gibt aber auch andere Meinungsforscher, die den Abstand bei sechs oder sogar bei zwölf Prozentpunkten sehen.

Und es ist auch immer noch so, dass nur eine Minderheit der Briten Corbyn das Amt des Premierministers zutraut. Geht es um die persönliche Popularität, dann führt Theresa May noch immer mit 15 Prozentpunkten vor Jeremy Corbyn.

May ließ 20.000 Stellen bei Polizei streichen

Trotzdem: Die Stimmung auf der Insel hat sich in den vergangenen Tagen deutlich verändert. Es ist völlig unklar, wie sich der Terroranschlag vom vergangenen Sonnabend auf die Wahl auswirken wird. Plötzlich ist nicht der Brexit, sondern die Sicherheit das Thema Nummer eins und damit ist auch Theresa May zusätzlich angreifbar geworden.

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    Sie war es, die in den sechs Jahren, in denen sie Innenministerin war, 20.000 Stellen bei der Polizei streichen ließ. Kein Tag vergeht, ohne dass Labour-Chef Corbyn in diese Kerbe haut, aber so richtig leicht fällt es ihm auch wieder nicht. Er selbst hat in der Vergangenheit mehrfach gegen Anti-Terror-Gesetze gestimmt. Auch für gezielte Todesschüsse auf Angreifer – die am Sonnabend in London Schlimmeres verhindert haben dürften – war Corbyn nicht ohne Weiteres zu haben.

    Corbyn positioniert sich als Gegner der Politik-Elite

    Und doch surft Corbyn auf einer Popularitätswelle, wie es sie zuletzt nur in den USA gab. Dort war es der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Bernie Sanders, der gerade von jungen Leuten fast wie ein Popstar gefeiert wurde. Sanders, 75 Jahre alt, galt als authentischer Kandidat und präsentierte ein betont linkes Programm. Auch Corbyn, mit seinen 68 Jahren nicht viel jünger, in dritter Ehe verheiratet und Vater von drei Kindern, gilt als ehrliche Haut und hat eine stabile Fangemeinde.

    Ohne diese „Corbynistas“, wie sie vom politischen Gegner genannt werden, hätte er sich nicht an der Spitze der Partei halten können. Wie der US-Demokrat Sanders und ja, auch Donald Trump, positioniert sich Corbyn als Gegner der traditionellen Politik-Elite: Die Medien und das Establishment wollten nicht, dass er gewinne, behauptet Corbyn. „Denn wenn wir gewinnen, siegt das Volk und nicht die Mächtigen.“ Solche Töne waren auch im US-Wahlkampf zu hören.

    Vegetarier, Nicht-Raucher, kein Alkohol

    Dabei ist Corbyn selbst schon seit 34 Jahren im Politikgeschäft. So lange schon sitzt er für den Londoner Wahlkreis Islington North im Unterhaus – die meiste Zeit davon auf den hinteren Bänken. In dieser Zeit macht er sich als Parteirebell einen Namen, der nicht selten gegen die Anträge der eigenen Fraktion stimmt.

    Ins Rampenlicht tritt er 2015, als die Labour-Partei unter Führung von Ed Miliband die Wahl gegen die Konservativen verliert: Corbyn tritt um den Posten als Parteichef an. Obwohl ihm nur Außenseiterchancen eingeräumt werden, gewinnt er mit überwältigender Mehrheit. Noch deutlicher ist sein Sieg 2016, nachdem ihn seine Fraktion in die Wüste schicken wollte. Die Basis von Labour stützt ihr Idol erneut.

    Corbyn ist Risiko für die Brexit-Verhandlungen

    Umgekehrt ist es genauso: Corbyn gilt als prinzipientreu. Er soll sich vegetarisch ernähren, nicht rauchen und keinen Alkohol trinken. Seine Partei hat er auf einen linken Kurs gebracht: Er will die Privatisierung von Bahn und Post zurückdrehen, den Mindestlohn anheben und Reiche höher besteuern. Im Wahlkampf versucht er, mit sozialen Themen wie der Wohnungsnot oder dem desolaten Zustand des Gesundheitssystems zu punkten. Mit Erfolg: Dass Premierministerin May und ihre Konservativen in den Umfragen zwischenzeitlich abgestürzt sind, liegt daran, dass sie alte Menschen stärker an ihren Pflegekosten beteiligen wollten.

    Was den Brexit angeht, so will sich Corbyn wie May unbedingt an das Ergebnis des Referendums halten. Als May ihr Brexit-Gesetz im Parlament zur Abstimmung stellte, wies Corbyn seine Fraktion an, dafür zu stimmen – obwohl die Regierung alle Änderungsanträge der Opposition ablehnte. Und doch ist Corbyn ein Risiko für die Brexit-Verhandlungen: Sollte er in die Nähe der absoluten Mehrheit kommen, könnte er eine Minderheitsregierung anstreben, die von den pro-europäischen schottischen Nationalisten toleriert wird. Dann dürften die Brexit-Verhandlungen kaum pünktlich beginnen.

    Corbyn überrascht mit neuen Anzügen und Humor

    Um in die Downing Street 10, den Sitz des Premiers, einziehen zu können, müsste Corbyn jetzt, nach dem jüngsten Terroranschlag, auf dem Feld der inneren Sicherheit punkten. Hier aber macht gerade Schatten-Innenministerin Diane Abbott keine gute Figur. In einer Reihe von Interviews hat sie sich mit einer Mischung aus Arroganz und Inkompetenz bis auf die Knochen blamiert. Ein Clip, in dem Abbott stammelnd antwortet und sich mehrfach widerspricht, ist ein Hit auf Youtube. Die Wahlkampfleitung hat Abbott ein Interviewverbot erteilt.

    Corbyn selbst hat die Briten dagegen überrascht. Nachdem er einen neuen Schneider gefunden hat, bleiben die beigefarbenen Anzüge im Schrank. In Fernsehdebatten erweist er sich als ruhig, überlegt und sogar humorvoll. Seine Reden bilden einen angenehmen Kontrast zu May, die roboterhaft ihre Botschaften wiederholt und selten etwas Neues sagt. Corbyn dagegen spricht leidenschaftlich über politische Inhalte.

    Dass er das, was er verspricht, ab Freitag als neuer Premierminister umsetzen kann, erscheint aber fraglich. In den Umfragen hat Labour zwar aufgeholt. Es gibt aber auch noch die britischen Buchmacher. Und die sehen Theresa May als Favoritin. Aber: Beim Brexit lagen die Wettexperten schon einmal falsch.