Belcoo. In Irland wachsen angesichts des nahenden Brexit die Sorgen: Begegnungen entlang der alten Trennlinie zwischen Irland und Nordirland.

Wer von der Grenze nichts weiß, kann sie leicht verpassen: Die Landstraße zwischen Enniskillen und Sligo verläuft durch leuchtend grüne Hügel, auf denen Schafe grasen, und pittoreske Kleinstädte. Zwischen den Dörfern Belcoo und Blacklion führt sie über eine kleine Steinbrücke mit niedriger Brüstung und dabei über die zukünftige EU-Außengrenze.

Blacklion, im Süden, 229 Einwohner nach der letzten Zählung, liegt in der Republik Irland. Belcoo, im Norden, etwa doppelt so groß, gehört zu Nordirland und damit zum Vereinigten Königreich. Außer den Verkehrsschildern, die Höchstgeschwindigkeiten im Norden in Meilen und im Süden in Kilometern pro Stunde angeben, markiert den Übergang nichts. Doch wenn das Vereinigte Königreich wie geplant, die EU verlässt, wird sich das ändern.

„Niemand will dahin zurück“

Die Brücke trennt die Städte Belcoo (Irland) und Blacklion (Nordirland).
Die Brücke trennt die Städte Belcoo (Irland) und Blacklion (Nordirland). © Theresa Martus | Theresa Martus

„Um ehrlich zu sein, ich dachte nicht, dass es passiert“, sagt Brian Kerrigan und seufzt über seinem Bier. „Aber jetzt sieht es doch sehr danach aus, dass der Brexit kommt.“ Kerrigan sitzt in einem Pub in Belcoo, auf der nordirischen Seite. Eine Handvoll Gäste verteilt sich über Barhocker und Sofas. Auf einem Fernsehschirm läuft englischer Fußball, Chelsea gegen Southampton, auf einem anderen Pferderennen, ein fünftägiges Event bei Dublin. Kerrigan, Versicherungsmakler, wohnt in Manorhamilton, auf der irischen Seite der Grenze. Er ist oft hier, ein Teil seiner Familie wohnt in Belcoo. Kerrigan ist alt genug, sich an die geschlossene Grenze zu erinnern: „Soldaten, Polizei, Zoll“, sagt er, „niemand will dahin zurück“.

Die 499 Kilometer lange Grenze zwischen Nordirland und der Republik war nicht immer so friedlich wie heute. Hier wütete zwischen 1963 und 1998 der Nordirland-Konflikt. Die Bombenanschläge der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die Nordirland von Großbritannien loslösen und mit Irland vereinigen wollte, erschütterten ganz Europa. Die meist katholischen Nationalisten, die Nordirland in der Republik sehen wollten, und die protestantischen Unionisten, loyal zum Königreich, standen sich unversöhnlich gegenüber. Mehr als 3000 Todesopfer forderten die Kämpfe.

Mit Beginn des Binnenmarkts gingen die Zöllner

Um paramilitärischen Gruppen Waffenschmuggel und Anschläge zu erschweren, war die Grenze lange Zeit schwer befestigt, zahlreiche Straßen waren geschlossen. Auf den wenigen Metern der Brücke zwischen Belcoo und Blacklion drängten sich zwei Armee-Posten und zwei Zoll-Stationen, im Dorf auf der Nordseite waren Soldaten stationiert. Mit der Einführung des Binnenmarkts gingen 1993 die Zöllner, mit dem Karfreitags-Friedensabkommen 1998 die Soldaten.

„Eine harte Grenze wäre ein großer Schritt zurück“, sagt Jemma Dolan, Abgeordnete des nordirischen Parlaments. „Die Leute haben Familie auf der anderen Seite der Grenze, sie arbeiten dort oder studieren.“ Eine „harte Grenze“, also eine, an der wieder Checkpoints stehen. Welche das wären, ist eine der vielen bislang unbeantworteten Fragen zum Brexit. Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rats, will eine „flexible und kreative“ Lösung für die irische Grenze. Die britische Premierministerin Theresa May hat erklärt, eine harte Grenze vermeiden zu wollen.

Nordiren stimmten mehrheitlich gegen den Brexit

Jemma Dolan glaubt nicht daran. Die 26-Jährige, die aus der Gegend stammt, spricht schnell und mit Nachdruck, wenn es um die Zukunft der Grenzregionen geht. Dolan ist Abgeordnete von Sinn Féin, der größten Partei der – mehrheitlich katholischen – Nationalisten, die ultimativ die Wiedervereinigung mit der Republik Irland anstreben. Lange war das ein weit entferntes Ziel, doch der geplante EU-Ausstieg der Briten hat ein vereintes Irland in den Augen vieler näher rücken lassen. „Mehr Leute als je zuvor reden darüber“, sagt Dolan, „Unionisten und Nationalisten. Beide wissen, dass es uns in der EU besser geht.“

Auf Hilfe aus London vertraut auch Peter Gallagher nicht. „Wir haben dafür gestimmt, in der EU zu bleiben“, sagt er, „aber das wurde in London überhaupt nicht gehört.“ Rund 56 Prozent der 1,85 Millionen Nordiren stimmten im Juni 2016 für den Verbleib in der EU. In den Grenzgebieten waren es bis zu 78 Prozent. „Sicher ist nur, dass wir nicht mitreden können werden, wie die Grenze aussehen wird.“

Viele hängen von Handel mit dem Süden ab

Gallagher hat einen Handel mit Farmbedarf, fünf Gehminuten von der Brücke entfernt, und einen Gemischtwarenladen. Der Unternehmer hat sich an der Grenze eingerichtet: Eine Ecke in seinem Laden besetzt das „Päckchen-Motel“. Wer auf der Südseite der Grenze online bei einer britischen Firma bestellt, aber kein internationales Porto zahlen möchte, lässt sein Päckchen zu Gallagher schicken. Der nimmt es entgegen und ruft an, wenn die Sendung da ist – für eine Aufwandsentschädigung von zwei Euro pro Päckchen. Seit zehn Monaten gebe es das Motel, sagt Gallagher, „mittlerweile bekommen wir 200 Päckchen pro Woche“. Auch von den Kunden seiner Firma kommen 60 Prozent aus dem Süden.

Gallagher ist nicht der Einzige, der vom Handel mit dem Süden abhängt: Die Wirtschaft auf der Insel ist eng miteinander verwoben. Mehr als die Hälfte der Exporte aus Nordirland geht in die EU, davon zwei Drittel in die Republik Irland. Entsprechend sorgenvoll blickt die nordirische Wirtschaft in die Zukunft. „Nordirische Firmen machen sich große Sorgen wegen des Brexits“, sagt Angela McGowan, Nordirland-Chefin des Britischen Wirtschaftsverbands (CBI).

Farmer sind besonders verwundbar

Der Zugang zu Fachkräften könne zum Problem werden. Für viele Sektoren wie Tourismus oder Logistik sei es unverzichtbar, dass die irische Insel einen gemeinsamen Markt habe. Am verwundbarsten sind laut McGowan die Farmer: „Die Landwirtschaft arbeitet bis jetzt in einem geschützten und stark geförderten EU-Markt“, sagt sie. 85 Prozent der Einnahmen der 25.000 Farmen im Land stammen aus EU-Fördertöpfen.

Ohne die EU gäbe es auch den Job von Martin McAndrews nicht. McAndrews, der ursprünglich aus Schottland kommt, lebt seit 15 Jahren in Nordirland, an der Grenze in Pettigo. Dort, rund 40 Minuten westlich von Belcoo, steht der Termon-Komplex, den McAndrews leitet. Benannt nach dem Flüsschen, das die heute unsichtbare Grenze markiert, bildet der Komplex eine Art Gemeindezentrum: Es gibt Sportplätze, ein Fitnessstudio, einen Konzertsaal.

„Es ist ein neutraler Ort“, sagt McAndrews, „alle können hierhin kommen.“ Keine Selbstverständlichkeit in einer Region, in der selbst kleine Städte zwei Zeitungen haben – eine für die nationalistische Bevölkerung, eine für die unionistische. Finanziert wurde der Komplex von der EU, mit 8,3 Millionen Euro aus dem dritten PEACE-Programm. 1,3 Milliarden hat die europäische Gemeinschaft seit 1995 ausgegeben, um den fragilen Frieden in der Region zu fördern. Das vierte PEACE-Programm läuft seit Anfang 2016 und ist mit weiteren 270 Millionen ausgestattet, 229 Millionen davon kommen direkt von der Europäischen Union.

Nicht alle sind von Panik erfüllt

Dass Dublin und London bei einem Ausstieg diese Funktion übernehmen, bezweifelt er. Seine älteste Tochter, erzählt McAndrews, habe jedenfalls vor Kurzem einen irischen Pass beantragt. Diese Option steht nach dem Karfreitagsabkommen allen 1,85 Millionen Nordiren offen. Für die Frau ist dies die Hoffnung, trotz Brexits die Verbindung zur EU nicht zu kappen. Immer mehr Nordiren machen es genauso.

Aber nicht alle sind von Panik erfüllt. Auf der Südseite der Brücke zwischen den Grenzorten Belcoo und Black­lion sitzt Harold Johnston in dem Textilladen, den seine Großmutter 1901 eröffnet hatte. Bei der Frage nach dem Brexit hebt er nur die Schultern. „Ich bin zu alt, um mir Sorgen zu machen“, sagt er. Das Land habe ohnehin schon Schlimmeres erlebt. Zum Beispiel in den frühen 50er-Jahren, als die wirtschaftliche Not viele junge Iren ins Exil trieb. „Mein Vater hat viele Koffer verkauft zu dieser Zeit“, erinnert sich Johnston. Dass der Brexit ähnlich drastische Konsequenzen haben wird, glaubt er nicht.