Istanbul. Nach dem Türkei-Referendum wächst die Wut auf Erdogan. Der Protest erinnert an Gezi-Aufstand. Ein Teilnehmer schildert seine Eindrücke.
Kurz nachdem sich Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabend zum Sieger des Referendums erklärte, hört Navid (vollständiger Name der Redaktion bekannt) einen altbekannten Klang. Seine Nachbarn im Istanbuler Stadtteil Kadıköy schlagen Töpfe und Pfannen gegeneinander. Es ist der Klang des Protests. 2013 taten Demonstranten das Gleiche beim Gezi-Aufstand.
Navid, geboren und aufgewachsen in Neuss und zurzeit Student an einer Universität in Istanbul, macht sich auf zu einem kleinen Platz in der Nähe seiner WG. Etwa hundert Menschen haben sich dort versammelt, erzählt er. Einige klatschen, andere haben auch dorthin ihre Töpfe mitgebracht. Schon bald stößt eine größere Gruppe hinzu. Der Protestzug setzt sich in Bewegung.
Polizei dürfte bald härter durchgreifen
Seit diesem Abend gibt es in etlichen Orten der Türkei Demonstrationen. Die Menschen werfen der Regierung vor,
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nennen Präsident Erdogan „Dieb“ und „Mörder“. Navid war bei zwei Protestmärschen dabei. Er glaubt, dass die Demonstrationen zu etwas Größerem werden können. Aber auch, dass die Polizei schon bald härter vorgehen wird.
Navid, seit dem Referendum gehen jeden Tag Menschen in der Türkei gegen Erdogan auf die Straße. Was glauben Sie, wohin die Proteste noch führen?
Navid: Das ist schwer zu sagen, da ich leicht in Wunschdenken verfalle. Ich würde es begrüßen, wenn die nun täglichen Demonstrationen anhalten und sich weiter entwickeln. Der Zusammenschluss verschiedener Gruppen in den Istanbuler Stadtteilen und anderen Städten wie Izmir oder Ankara sollte gesucht werden. Mir hat es sehr gut gefallen, dass es bei den bisherigen Demos nicht darauf ankam, ob jemand Kemalist, Kurde oder sonst wer war. Es gab keine Parteizeichen, sondern einfach die klare Ablehnung der Art der Durchführung und des Ergebnisses des Referendums. Wenn das so bleibt, könnten die Proteste weiter wachsen.
Spätestens in einer Woche wird die Polizei jedoch ihre Taktik ändern. Sie wird schneller und härter eingreifen, da sie, wie bei vorherigen Protesten gesehen, wartet bis das öffentliche Interesse an den Demonstrationen zurückgeht. Wenn, so wie bisher, die Demonstrationen deeskalierend und zurückhaltend, gleichzeitig aber laut und bestimmt ablaufen, kann sich wieder etwas Größeres entwickeln, das es seit Gezi nicht mehr gab.
Wer organisiert den Protest?
Navid: Das ist nicht ganz klar. In vielen Fällen dürfte es sich um die Gruppe Haziran handeln, ein Links-Bündnis. Jedenfalls sind die online sehr gut vernetzt und posten viel zu den Protesten auf Facebook. Allerdings gehe ich davon aus, dass auch andere Einzelpersonen sich einbringen und spontan beim Ablauf helfen – zum Beispiel Schilder verteilen, der Demo vorausgehen und Autos an der nächsten Straßenecke umleiten.
Wie ist die Stimmung unter den Erdogan-Gegnern?
Navid: Gemischt. Es gibt sie, die Hoffnungsvollen. Jene, die sich an Gezi erinnern und da weiter machen wollen, wo sie 2013 aufgehört hatten. Es gibt jedoch auch die Skeptiker, die zwar mit auf den Demonstrationen waren, aber befürchten, dass Erdoğan die Polizei eher heute als morgen für Ruhe sorgen lässt. Und sie können sich sehr gut daran erinnern, was das heißt. Viele meiner Freunde haben noch Patronenhülsen der Gasgranaten zu Hause. Eine Mahnung, die zur Vorsicht ruft. Wiederum andere sagen, es müsse erst richtig knallen, bis sich etwas ändert.
Sie waren bei zwei Protestzügen dabei. Was haben Sie erlebt?
Navid: Am Sonntag zogen wir zusammen durch das Viertel Moda in Kadıköy. Immer mehr Menschen schlossen sich uns an. An geöffneten Fenstern standen Menschen, die ebenfalls klatschten oder Metall aneinander schlugen. Eine Parole bestimmte den Abend. „Hırsız! Katil! Erdoğan!“ – „Dieb! Mörder! Erdoğan!“. Zwischenzeitlich wurde auch „Gel! Gel! Gel!“ – „Komm! Komm! Komm!“ – gerufen, um Passanten zum Mitziehen zu bewegen. Was auch gelang. Als wir wieder am Platz ankamen, hatte sich die Menschenmenge mindestens verzehnfacht. Der kleine Platz war nun vollständig mit Menschen gefüllt.
Anschließend ging es weiter durch andere Straßen und Gassen Kadıköys. Wir hatten mittlerweile erfahren, dass sich ein Polizeiaufgebot am zentralen Verkehrsknoten Altıyol postiert hatte. Zuvor waren uns lediglich Zivilpolizisten mit Funkgeräten aufgefallen, die unseren Demozug begleiteten.
Kam es zur Konfrontation?
Navid: Kurz bevor wir den Platz mit der markanten Bullen-Statue erreichten, hielt der Demozug inne. Man war sich uneinig, ob die Konfrontation mit der Polizei gesucht werden solle oder nicht. Nach einiger Zeit trennte sich so die Demo in zwei Richtungen, was später zur vollständigen Auflösung mit beitrug. Wir folgten der Gruppe in Richtung Polizei, diese blieb allerdings passiv, so dass es zu keiner Ausschreitung oder Ingewahrsamnahme kam.
Eine Freundin von mir war bei einer ähnlichen Demonstration im Stadtteil Beşiktaş. Hier griff die Polizei allerdings nach dem Zusammentreffen direkt ein. Dort sollen auch Demonstranten kurzzeitig festgenommen worden sein.
Das hinderte die Menschen aber nicht daran, weiterzumachen.
Navid: Nein, am Montagabend trafen wir uns wieder. Zeit und Treffpunkt wurden bekannt gegeben. Der Protestzug durch die Straßen war ähnlich dem des Vortages. Jedoch waren weitaus mehr Menschen dabei. Es war dieses Mal auch organisiert. Die Menschen hatten zahlreiche Schilder dabei. Kamerateams waren anwesend, allerdings auch deutlich mehr Zivilpolizisten. Es wurde zügiger marschiert und ein Frontbanner führte den Zug an. Die Parolen waren die gleichen. Von Zeit zu Zeit wurde gestoppt und kurze Aufrufe über Lautsprecher durchgegeben. Man forderte die Regierung auf, die geklauten Stimmen beim Referendum zurückzugeben.
Als der Demonstrationszug an der mehrspurigen Hafenstraße in Kadıköy ankam, wurden eine Handvoll Bengalos gezündet. Das Ziel des Umzuges war die YSK, die Hohe Wahlkommission Yüksek Seçim Kurulu, in der Nähe des alten Bahnhofs Haydarpaşa. Hier warteten diesmal jedoch ein Wasserwerfer und zahlreiche Polizisten. Nach etwa zehn Minuten Demonstrieren auf der Straße, rief die Polizei dazu auf, die Straße wieder freizugeben, da sich mittlerweile zahlreiche Busse und Autos gestaut hatten.
Mit dem Hinweis „letzte Warnung“ kamen wir dem Aufruf nach und traten den Rückweg an. Meine Begleitung und ich waren jedoch etwas langsamer, so fanden wir uns plötzlich in einer großen Gruppe Zivilpolizisten wieder, die den abfließenden Demonstranten folgten. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Wieder in den Gassen Kadıköys konnten wir beobachten, dass sich die Zivilbeamten an die Verfolgung kleinerer Gruppen machten, die stets auf die nächste Kreuzung auswichen. Einen Zusammenprall konnten wir nicht beobachten.
Sie berichten auch von Festnahmen bei den Protesten. Haben Sie Angst vor möglichen Konsequenzen durch die Regierung?
Navid: Nein, Angst habe ich keine. Ich stehe bei den Demonstrationen nicht in der ersten Reihe und bin selbst eher Beobachter als Aktivist. So weit ich weiß, waren die bisherigen Festnahmen auch sehr kurz mit dem Ziel der Auflösung der Demonstrationen. Bei uns in Kadıköy ist es meines Wissens nicht dazu gekommen. Was natürlich auch nichts heißt.
Proteste gegen Erdogan nach Referendum
Was ich wahrscheinlich mit den anderen Menschen gemeinsam habe, ist vielmehr die Sorge, als die Angst. Wobei dann die Sorge vor Konsequenzen der Regierung nicht unbedingt in der gewaltsamen Auflösung einer Demonstration liegen, sondern in der Gesamtentwicklung der Türkei, mit möglichen Repressionen gegen jeden, der nicht auf Linie bleiben möchte.
Erdogan hat sich spöttisch über die Proteste geäußert. Spornt Sie das an?
Navid: Erdoğan redet viel. Er droht, zürnt oder spottet. Man gewöhnt sich daran. Entscheidend ist nicht, was er macht, sondern was die Anderen machen. Bleiben HDP und CHP (Oppositionsparteien, Anm. d. Red.) standhaft und fordern auf allen möglichen Wegen eine Überprüfung oder Annullierung des Referendums? Kommt es zu einer Spaltung innerhalb der MHP (rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung, Anm. d. Red.)? Bleiben die Proteste auf den Straßen sichtbar und wachsen? Das sind Faktoren, die mich und andere anspornen. Wenn wir sehen, dass wir nicht alleine sind, dass wir etwas verändern können.