Türkei entfernt sich nach Referendum weiter von Europa
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Istanbul. Für viele Politiker ist der Weg in die EU für die Türkei verbaut. Staatspräsident Erdogan stört sich nicht daran und provoziert weiter.
Als Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabend den Sieg beim Referendum reklamiert, ist die Auszählung der Stimmen noch gar nicht beendet. Erdogan preist dennoch die „historische Entscheidung“ des Volkes für das Präsidialsystem, das ihn nun noch mächtiger machen wird. „Das ist der Sieg der gesamten Türkei“, meint er. Ziemlich genau die Hälfte der Türkei sieht das anders. Das vorläufige und denkbar knappe Ergebnis, das die Opposition anfechten möchte: 51,4 Prozent Zustimmung für das Präsidialsystem, 48,8 Prozent Ablehnung. Die Türkei ist gespalten wie nie.
Vor allem die konservativen zentralanatolischen Provinzen haben Erdogan unterstützt – und die Auslandstürken. Die drei größten Metropolen des Landes haben mehrheitlich für ein „Nein“ gestimmt: Istanbul, Izmir und sogar die Hauptstadt Ankara, die seit 1994 von AKP-Bürgermeister Melih Gökcek regiert wird. Der Westen sowie weite Teile der Südküste und des kurdischen Südostens folgten Erdogan nicht.
Erdogan hat Konflikt mit dem Westen heraufbeschworen
Was sich nach dem Referendum auch zeigt: Erdogans Strategie, einen Konflikt mit Europa über Wahlkampfauftritte heraufzubeschwören, ist aufgegangen. Dass Erdogan dabei den Niederlanden und Deutschland „Nazi-Methoden“ vorwarf, schreckte die Türken dort nicht ab, ganz im Gegenteil: In den Niederlanden konnte er mehr als 70 Prozent der Stimmen verbuchen, in Deutschland fast eine Zweidrittelmehrheit.
Anders als die Mehrheit der Wähler reagierten in Deutschland viele Politiker mit Enttäuschung auf das Wahlergebnis. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu, der das Referendum in Istanbul beobachtet hat, kritisierte nicht nur die damit verbundene politische Ausrichtung der Türkei, sondern auch das Zustandekommen: „Das Referendum ist unter absolut unfairen und ungerechten Bedingungen abgelaufen“, sagt er.
Das knappe „Ja“ komme einer Abschaffung der parlamentarischen Demokratie gleich. Die Türkei habe sich von ihrer Orientierung gen Westen nun völlig verabschiedet. „Das ist ein schwarzer Tag für die Türkei und für die EU.“ Auch Spitzen von CSU, Linke und FDP forderten umgehend ein Ende der EU-Beitrittsgespräche.
Die Menge skandiert: „Todesstrafe, Todesstrafe“
Außenminister Sigmar Gabriel erklärte zwar, dass man der Türkei die Tür noch offen halten wolle. Allerdings nur so lange, bis die Türkei tatsächlich die Todesstrafe wiedereinführen wolle. Eine rote Linie, die Erdogan nur allzu gut kennt. Was ihn nicht davon abhielt, sich schon am Sonntagabend dieser Linie weiter zu nähern.
„So Gott will, wird die erste Aufgabe sein...“ unterbrach ihn die Menge mit: „Todesstrafe, Todesstrafe“. Wenn er dafür nicht die nötige Unterstützung im Parlament bekomme, „dann machen wir eben auch dazu eine Volksabstimmung“, bekräftigte Erdogan. Das Volk, das einfache Volk, jubelte.
Das Meinungsforschungsinstitut Gezi, das das Wahlergebnis vom Sonntag fast genau vorhersagte, hatte schon vor dem Referendum einen Zusammenhang zwischen dem Stimmverhalten und dem Bildungsgrad festgestellt: Je geringer der Schulabschluss, desto höher war bei den Befragten die Zustimmung zu Erdogans Präsidialsystem.
Erdogan erreicht vor allem die einfachen Menschen
Die einfachen Menschen sind es, bei denen Erdogans Rhetorik verfängt und deren Stimmung er meisterhaft zu lesen weiß. Das stellt der Präsident am Sonntagabend wieder unter Beweis, als er in Istanbul vor seine jubelnden Anhänger tritt. „Wir haben viel zu tun“, ruft er. „Wir haben noch viel zu erledigen in diesem Land.“ Die Menge vollendet einen seiner folgenden Sätze. „Idam, Idam“ skandieren die aufgepeitschten Menschen: „Todesstrafe, Todesstrafe“.
Kein Wort davon, wie knapp das Ergebnis ausgefallen ist – und wie weit Erdogan sein selbsterklärtes Wunschziel von mehr als 60 Prozent verfehlt hat. Kein Wort natürlich auch über die vielen Unregelmäßigkeiten, die die Opposition am Wahltag beklagt hat. Die größte Oppositionspartei CHP fordert eine Annullierung des Referendumsergebnisses – wobei niemand in der Türkei ernsthaft damit rechnet, dass sich die Mitte-Links-Partei damit durchsetzten könnte.
Entsprechend aufgebracht ist etwa der CHP-Abgeordnete Özgür Özel. Nazi-Vergleiche sind in den vergangenen Wochen eigentlich Erdogans Domäne gewesen, doch am Montag kann sich auch Özel nicht zurückhalten. Im Sender CNN Türk schimpft er mit Blick auf Erdogan: „Der Mann ändert die Verfassung, wie Hitler sie geändert hat.“
Opposition wird auch von den Medien kleingehalten
In Ankara tritt kurz nach Schließung der Wahllokale Erdogan-Berater Mustafa Akis vor Journalisten. Er kommt zu dem bemerkenswerten Schluss, der Wahlkampf sei aus seiner Sicht fair verlaufen. „Diejenigen, die für ein „Ja“ oder für ein „Nein“ warben, hatten die Möglichkeit, sich durch Medien auszudrücken und mit der Öffentlichkeit zusammenzutreffen. Ich glaube, sie hatten gleiche Chancen. Ich habe keine Ungleichheiten gesehen.“
Dabei sind die ungleich verteilten Chancen nicht zu übersehen gewesen. Der Tag vor dem Referendum in der Türkei zeigte noch einmal eindrücklich, wie unfair der Wahlkampf verlaufen ist. Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim traten insgesamt neun Mal in Istanbul auf. Die längst auf Regierungslinie gebrachten Fernsehkanäle schalteten hektisch zwischen den beiden hin und her, wobei Yildirim vor allem als Pausenfüller zwischen den Erdogan-Ansprachen diente. Die Opposition kam – mal wieder – so gut wie gar nicht vor.
Das wirft die Frage auf, wie das Resultat ausgefallen wäre, wäre der Wahlkampf fair verlaufen. Dass das Referendum unter ungleichen Bedingungen stattfand, zu dem Schluss kommen auch die Wahlbeobachter der OSZE. „Die beiden Seiten der Kampagne haben nicht die gleichen Möglichkeiten gehabt“, heißt es im vorläufigen Bericht der Mission. Das Erdogan-Lager habe Staatsressourcen missbraucht und Gegner des Präsidialsystems „mit Terror-Sympathisanten gleichgesetzt“.
Türken stimmen für Präsidialsystem
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Erdogan weist Kritik der Wahlbeobachter scharf zurück
Die OSZE bemängelt auch, dass im Ausnahmezustand Grundfreiheiten eingeschränkt gewesen seien, „die für einen demokratischen Prozess wesentlich sind“. Den Ausnahmezustand hatte Erdogan nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres ausgerufen. Wer hoffte, nach dem Referendum würde er aufgehoben, der dürfte sich getäuscht sehen: Am Montag melden türkische Sender, er werde verlängert. Im Ausnahmezustand kann Erdogan weitgehend per Dekret regieren – wie unter dem Präsidialsystem, wenn es denn voll umgesetzt ist.
Als Erdogan am Montagabend am Präsidentenpalast in Ankara vor seine Anhänger tritt, wirkt es, als würde er den Wahlkampf einfach fortsetzen. Die internationalen Wahlbeobachter weist er zurecht. „Kennt erstmal Eure Grenzen“, ruft er. Die Kritik der Beobachter sei politisch motiviert und werde von der Türkei nicht anerkannt. „Dieses Land hat die demokratischsten Wahlen durchgeführt, wie sie kein einziges Land im Westen je erlebt hat.“