London. Die Uhr tickt, der Brexit ist gestartet: Die britische Premierministerin Theresa May deutete schon mal an, was geht – und was nicht.

Sir Tim Barrow in seinem dunkelblauen Dreiteiler und mit dem gepflegten weißen Vollbart ist ganz der Typ freundlicher Weihnachtsmann, wie es sich für einen britischen Top-Diplomaten gehört. Am Mittwochmittag übergab Sir Tim in Brüssel als Gesandter der britischen Premierminister dem Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk einen Brief. Das Schreiben von Theresa May informiert Tusk offiziell vom britischen Wunsch, aus der Europäischen Union austreten zu wollen.

May twitterte ein Faksimile des Briefs über ihren offiziellen Account als Regierungschefin:

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Minuten später erhob sich in London die britische Premierministerin von ihrem Platz im Unterhaus und erklärte den Volksvertretern, was darin steht. Es war ein historischer Moment: der Zeitpunkt, an dem das Königreich seine 44-jährige Mitgliedschaft im Brüsseler Club aufkündigt. Jetzt beginnen zwei Jahre harter Verhandlungen, nach denen Großbritannien nicht mehr zur EU gehören wird.

„Dies ist ein historischer Augenblick“

Theresa May war sich der Bedeutung der Stunde bewusst: „Heute befolgt die britische Regierung den demokratischen Willen des Volkes. Dies ist ein historischer Augenblick, von dem es kein Zurück gibt.“

Großbritannien, unterstrich die Premierministerin, stehe an „einem großen Wendepunkt in seiner nationalen Geschichte“ und werde aus dem Austrittsprozess „stärker, fairer, geeinigter und weltoffener“ hervorgehen. Sie habe „einen ambitionierten Plan für ein tiefe und spezielle Partnerschaft mit der Europäischen Union“. Denn man werde zwar „die Institutionen der EU verlassen, aber wir verlassen nicht Europa. Wir werden ein enger Freund und Alliierter bleiben“. Dann skizzierte Theresa May, wie sie sich das künftige Verhältnis vorstellt.

Freizügigkeit, Souveränität – und das Geld

(1) Zuallererst müssten die Imperative befolgt werden, die sich aus der Brexit-Entscheidung ergeben. So will man die Personenfreizügigkeit einschränken. Die Briten hätten im Referendum, dafür gestimmt, wieder die volle Kontrolle über die Einwanderung von EU-Bürgern ins Königreich zurückzugewinnen.

(2) Zum zweiten bedeute Brexit aber auch, dass man wieder volle Souveränität über die Gesetze des Landes zurückerlange, soll heißen: Die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg, des Schiedsrichters in EU-Rechtsfragen, müsse aufhören.

(3) Und zum dritten: Die Briten hätten sich dafür ausgesprochen, keine bedeutenden Geldzahlungen mehr in den EU-Haushalt leisten zu wollen.

Ohne Binnenmarkt und Zollunion

Das sind die drei roten Linien, die May für das zukünftige Verhältnis zur EU gezogen hat. Das große Ziel, das sie anstrebt, ist „ein möglichst reibungsloser Handel“ mit der EU und den weitest möglichen Zugang zum Binnenmarkt. Immerhin wickelt Großbritannien rund 45 Prozent seines gesamten Außenhandels innerhalb der EU ab.

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    Eine Mitgliedschaft im Binnenmarkt oder in der Zollunion schließt May aus. Aber sie hofft auf ein maßgeschneidertes Freihandelsabkommen, das für die britische Volkswirtschaft so wichtige Sektoren wie Automobilbranche, Pharmamarkt oder Finanzdienstleistungen berücksichtigt.

    Sicherheit im Vordergrund

    Ob das realistisch ist, bleibt dahingestellt. Denn die Einschränkung der Personenfreizügigkeit zum Beispiel verstößt gegen eines der vier Grundprinzipien des Binnenmarktes. Und Rosinenpickerei, so hatte die EU-Seite vorher klargestellt, kommt nicht in Frage. Vielleicht sind Kompromisse möglich, wenn Großbritannien zwar einerseits formell die Kontrolle über die EU-Immigration zurückgewinnt, andererseits aber großzügige Einwanderungsquoten anbietet.

    Ein großer Trumpf der Briten ist eine Vokabel, die Theresa May gleich elf Mal in ihrem Schreiben an Donald Tusk bemühte: Sicherheit. Denn Sicherheit ist ein Bereich, in dem eine weitere enge Zusammenarbeit auch seitens der EU dringend gewünscht wird. Die Atommacht und das Mitglied im UN-Sicherheitsrat Großbritannien ist neben Frankreich der wichtigste europäische Nato-Verbündete.

    May: Bürger stehen an erster Stelle

    Besonders für osteuropäische Staaten ist das britische Engagement im Baltikum wichtig. Und die britischen Geheimdienste nehmen, nicht zuletzt dank ihrer hervorragenden Beziehungen zu den USA, eine Spitzenstellung ein. Eine künftige Kooperation zum Beispiel im Bereich der Terrorabwehr wird auf EU-Seite ausdrücklich begrüßt.

    In ihrem Brief an Tusk unterstrich die Premierministerin auch, dass ihr das Schicksal der EU-Bürger im Land am Herz liege: „Wir sollten immer unsere Bürger an die erste Stelle setzen.“ Sie drängte auf „eine frühe Vereinbarung über ihre Rechte“. Tatsächlich gibt es auf beiden Seiten guten Willen, das Schicksal der 3,5 Millionen EU-Arbeiter im Königreich und das der 1,2 Millionen Briten auf dem Kontinent nicht als Druckmittel zu gebrauchen.

    Scheidung birgt viel Zündstoff

    Aber schon über das Timing der Verhandlungen gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Während der EU-Chefunterhändler Michel Barnier zuerst den Scheidungsvertrag und erst danach ein Freihandelsabkommen verhandeln will, pocht die britische Seite auf parallel laufenden Gespräche.

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      Die Scheidungsverhandlungen enthalten den meisten Zündstoff. Die EU geht davon aus, dass Großbritannien eine Rechnung von rund 60 Milliarden Euro zu zahlen hat. Sie ergibt sich aus Pensionsbeiträgen, offenen finanziellen Verpflichtungen, zugesagten Beiträgen für Förderprogramme, aus der Haftung für gemeinsame Schulden und anderen Zahlungen in den EU-Haushalt.

      Führende britische Politiker wie der Brexit-Hardliner und frühere Parteichef Iain Duncan Smith haben diese Geldforderung schon als „blanken Unsinn“ abgelehnt. Theresa May hat das Thema im Unterhaus kluger Weise gar nicht erst angeschnitten. Das Eskalationspotenzial ist gewaltig. Es wird reichlich Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten brauchen, wenn man zu einem Deal kommen will.