Berlin. Die Antrittsrede des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz begeistert die Genossen. Gerechtigkeit wird das Schwerpunktthema im Wahlkampf.

Martin Schulz hat noch keine zwei Minuten geredet, da verkündet er schon große Ziele: „Wir werden die Wahlen in diesem Jahr richtig spannend machen“, ruft der eben frisch gekürte SPD-Kanzlerkandidat seiner Anhängerschaft im Willy-Brandt-Haus zu. Aufbruchstimmung und neue Hoffnung nach dem Führungswechsel in der SPD seien „im ganzen Land“ spürbar, erklärt Schulz selbstgewiss.

Der 61-Jährige steht auf einem Podium mitten im Publikum, wie man es aus US-Wahlkämpfen kennt. Für die Kameras sind hinter dem Rednerpult viele junge Leute platziert. Rund 600 Zuhörer hat die SPD für seinen ersten großen Auftritt im neuen Amt mobilisiert. Und Schulz gibt den Genossen gleich, was sie hören wollen: „Ich trete mit dem Anspruch an, Bundeskanzler zu werden“, sagt er unter langem Jubel.

Nicht nur das: Die SPD wolle bei der Bundestagswahl „die stärkste politische Kraft werden“. Stärkste Kraft? In Umfragen haben sich die Sozialdemokraten gerade auf 23 Prozent hochgerappelt, die Union liegt bei 36 Prozent, die Kluft schien bislang unüberwindbar. Doch hier im Willy-Brandt-Haus löst Schulz mit seinem hohen Anspruch Begeisterungsstürme aus.

Nichts scheint den Genossen mit Schulz unmöglich

SPD-Parteivorstand benennt Schulz als Kanzlerkandidaten

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    Anhänger halten Plakate mit dem Schulz-Konterfei und dem Wort „Mega“ hoch – sie sind dem berühmten „Hope“-Porträt Barack Obamas nachempfunden. Nichts scheint den Genossen plötzlich unmöglich. Einer Emnid-Umfrage zufolge trauen 62 Prozent der Bürger Schulz das Kanzleramt zu, im direkten Vergleich liegt er für die Demoskopen gleichauf mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU). „Es geht ein Ruck durch das ganze Land“, sagt der Spitzenkandidat und designierte SPD-Chef, diese Aufbruchstimmung müsse die Partei jetzt nutzen.

    Aber wie? Das soll Schulz an diesem Tag erläutern. Schnell wird klar: Er will das Kanzleramt vor allem mit dem Wahlkampfthema Gerechtigkeit erobern. Die SPD werde die „hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten“, in den Mittelpunkt stellen. Bildung müsse gebührenfrei werden von der Kita bis zum Studium.

    „Steuergerechtigkeit und die Bekämpfung von Steuerflucht werden ein zentrales Thema im Wahlkampf werden“, kündigt der SPD-Hoffnungsträger an. Er plädiert für mehr Investitionen, fordert die Rückkehr zur paritätisch finanzierten Krankenversicherung und verlangt im Kampf gegen Kriminalität hartes Durchgreifen, „aber mit Augenmaß“. Die SPD müsse der Anwalt der Menschen sein, die sich fürchteten.

    Als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten

    Vieles hat man genau so oder ähnlich von anderen SPD-Spitzenleuten schon gehört, denn es entspricht fast durchweg dem, was die Partei ohnehin beschlossen hat. Am stärksten wird die Rede deshalb, wenn der Kandidat nicht übers Programm, sondern über sich spricht. Schulz wehrt Kritik an mangelnder innenpolitischer Erfahrung mit dem Hinweis ab, er sei Bürgermeister gewesen – und jedes innenpolitische Problem komme irgendwann in den Rathäusern an.

    Schulz' Jugendfreunde setzen noch immer auf "ihren" Martin

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      Vor allem erzählt er davon, wie er als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geriet und sich wieder nach oben kämpfte: „Ich weiß, was es bedeutet, wenn man vom Weg abkommt.“ Schulz hatte die Schule vor dem Abitur verlassen. Als sein Traum von der Fußballprofikarriere platzte, verfiel er über Jahre dem Alkohol. Er wisse aber auch, wie es sich anfühle, wenn man eine zweite Chance bekomme, fügt der SPD-Politiker hinzu.

      Schulz zeigt sich stolz auf seinen weiteren Werdegang vom Buchhändler zum EU-Parlamentspräsidenten. Selbstbewusst sagt er: „Ich bin der Sohn einfacher Leute.“ Dass er kein Abitur und kein Studium vorzuweisen habe, dass er aus der Provinz komme, „sehe ich nicht als Makel“. Denn: Das teile er mit der Mehrheit der Bürger.

      Schulz als bürgernahes Gegenmodell zur Kanzlerin?

      Damit kommt er zum Kern des Schulz-Programms, der „tiefen Empathie“. Ein Bundeskanzler müsse die Alltagssorgen und Hoffnungen der Menschen nicht nur verstehen, „er muss sie spüren können“. Sonst sei er „fehl am Platz“. Der Saal jubelt, alle verstehen: Da inszeniert sich der Herausforderer als bürgernahes Gegenmodell zur Kanzlerin. Persönliche Angriffe auf Merkel vermeidet er aber, stattdessen verspricht Schulz einen fairen Wahlkampf. Harte Abgrenzung markiert er nur zur AfD, die er eine „Schande für die Bundesrepublik“ nennt. Und zu US-Präsident Donald Trump, dessen Tabubrüche „unerträglich“ seien.

      Schulz macht seine Sache ordentlich, aber glänzend ist sein Auftritt nicht. Eigentlich ist er ein begnadeter Redner, jetzt hastet er ohne Pausen durch das Manuskript. Als er nach 59 Minuten endet, bleiben viele Leerstellen. Die Frage, wie sich die SPD eine neue Steuerpolitik vorstellt oder was Rentner zu erwarten haben, beantwortet er kaum. Auch zu Bündnisoptionen der SPD äußert sich der Spitzenkandidat nicht.

      „Mister Europa“ Martin Schulz in Fotos

      Er steht für das Projekt Europa, nun zieht es ihn nach Berlin. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) kandidiert für den Bundestag. Das Foto zeigt Schulz an einem seiner größten Tage – mit der Medaille des Friedensnobelpreises, die 2012 die Europäische Union als Institution erhielt.
      Er steht für das Projekt Europa, nun zieht es ihn nach Berlin. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) kandidiert für den Bundestag. Das Foto zeigt Schulz an einem seiner größten Tage – mit der Medaille des Friedensnobelpreises, die 2012 die Europäische Union als Institution erhielt. © REUTERS | REUTERS / NTB SCANPIX
      Europa ist für den Mann aus Aachen, der nahe der Grenze zu den Niederlanden aufwuchs, ein Herzensanliegen.
      Europa ist für den Mann aus Aachen, der nahe der Grenze zu den Niederlanden aufwuchs, ein Herzensanliegen. © dpa | Stephanie Lecocq
      Zusammen mit dem EU-Kommissionpräsidenten Jean-Claude Juncker (re.) bildete Martin Schulz jahrelang das Führungsduo der EU.
      Zusammen mit dem EU-Kommissionpräsidenten Jean-Claude Juncker (re.) bildete Martin Schulz jahrelang das Führungsduo der EU. © dpa | Axel Heimken
      SPD-Mitglied Schulz wechselt nun in die Bundespolitik – doch welche Ämter er in Berlin anstrebt, ist noch offen.
      SPD-Mitglied Schulz wechselt nun in die Bundespolitik – doch welche Ämter er in Berlin anstrebt, ist noch offen. © REUTERS | REUTERS / FABRIZIO BENSCH
      Es wurde spekuliert, Schulz solle als Kanzlerkandidat der SPD für die Wahl 2017 in Stellung gebracht werden.
      Es wurde spekuliert, Schulz solle als Kanzlerkandidat der SPD für die Wahl 2017 in Stellung gebracht werden. © REUTERS | REUTERS / THOMAS PETER
      In der Flüchtlingspolitik engagierte sich Schulz besonders. Das Foto zeigt ihn im November 2015 in Athen beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft.
      In der Flüchtlingspolitik engagierte sich Schulz besonders. Das Foto zeigt ihn im November 2015 in Athen beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft. © imago | ZUMA Press
      2016 erhielt Martin Schulz bei der Publishers Night in Berlin die „Goldene Victoria“.
      2016 erhielt Martin Schulz bei der Publishers Night in Berlin die „Goldene Victoria“. © imago | Agentur Baganz
      Im September 2015 empfing Martin Schulz als EU-Parlamentspräsident den Dalai Lama in Straßburg.
      Im September 2015 empfing Martin Schulz als EU-Parlamentspräsident den Dalai Lama in Straßburg. © REUTERS | REUTERS / VINCENT KESSLER
      Papst Franziskus kam im November 2014 für eine Rede vor dem EU-Parlament nach Straßburg – natürlich begrüßt von Hausherr Martin Schulz.
      Papst Franziskus kam im November 2014 für eine Rede vor dem EU-Parlament nach Straßburg – natürlich begrüßt von Hausherr Martin Schulz. © REUTERS | REUTERS / POOL
      2013 überreichte Martin Schulz der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai den Sacharow-Preis des EU-Parlaments.
      2013 überreichte Martin Schulz der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai den Sacharow-Preis des EU-Parlaments. © REUTERS | REUTERS / VINCENT KESSLER
      Die Nummer eins will Martin Schulz demnächst in NRW sein – jedenfalls auf der Landesliste für die Bundestagswahl 2017.
      Die Nummer eins will Martin Schulz demnächst in NRW sein – jedenfalls auf der Landesliste für die Bundestagswahl 2017. © dpa | Michael Kappeler
      Der Brexit der Briten war ein harter Schlag für Schulz. Das Foto zeigt ihn im September 2016 bei einem Treffen mit der neuen britischen Premierministerin Theresa May in London.
      Der Brexit der Briten war ein harter Schlag für Schulz. Das Foto zeigt ihn im September 2016 bei einem Treffen mit der neuen britischen Premierministerin Theresa May in London. © REUTERS | REUTERS / STEFAN WERMUTH
      Die drei von der SPD: Parteichef Sigmar Gabriel, Noch-Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Martin Schulz – wird Schulz Nachfolger von einem der beiden?
      Die drei von der SPD: Parteichef Sigmar Gabriel, Noch-Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Martin Schulz – wird Schulz Nachfolger von einem der beiden? © REUTERS | REUTERS / FABRIZIO BENSCH
      Das „Projekt Europa“ will Schulz künftig von Berlin aus begleiten, kündigte er in Brüssel an.
      Das „Projekt Europa“ will Schulz künftig von Berlin aus begleiten, kündigte er in Brüssel an. © REUTERS | REUTERS / VINCENT KESSLER
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      Sein ambitioniertes Ziel, Kanzler zu werden, ist nach Lage der Dinge nur in einer rot-rot-grünen Koalition zu verwirklichen. Die Jusos verlangen deshalb am Sonntag von Schulz schon eine klare Koalitionsaussage für Rot-Rot-Grün und gegen eine Fortsetzung der großen Koalition. Sigmar Gabriel indes äußert die Erwartung, dass Schulz neben Wählern aus dem grünen und linksliberalen Milieu auch konservative Bürger ansprechen wird – was mit Rot-Rot-Grün schwer werden dürfte.

      Schulz muss sich schnell sein Team zusammenstellen

      Schulz steht unter enormem Erwartungsdruck. Die Zeit läuft, aber er muss trotz des späten Starts jetzt erst sein Team in der Parteizentrale zusammenstellen. Formell zum SPD-Vorsitzenden gewählt wird der Kanzlerkandidat bei einem Sonderparteitag am 19. März, doch übernimmt er mit dem Segen der Spitzengremien schon jetzt die Amtsgeschäfte im Willy-Brandt-Haus.

      Mit Generalsekretärin Katarina Barley, die wie er aus dem Rheinland stammt, versteht sich der neue Vorsitzende gut. Wahlkampfleiter soll sein Vertrauter Markus Engels werden, der bisher in Berlin die Pressearbeit von Schulz koordinierte und die SPD-Zentrale gut kennt: Er war schon Büroleiter des SPD-Kanzlerkandidaten von 2009, Frank-Walter Steinmeier. Aus Brüssel will Schulz nur wenige enge Mitarbeiter nach Berlin holen.

      So baut Schulz auch hier auf das auf, was Gabriel nach sieben Jahren in der Parteizentrale hinterlässt. Einen „Freund“ nennt der neue Hausherr seinen Vorgänger. Und er ruft Gabriel zu: „Du bist ein toller Typ.“ Da klatschen die Genossen auch dem scheidenden Vorsitzenden Beifall, aber schnell bremst Gabriel und zeigt auf seinen Nachfolger. Die Bühne der SPD, soll das heißen, gehört ab jetzt Martin Schulz.