Berlin. Der Leitzins wird erstmals seit elf Jahren angehoben – um mehr Punkte als von Experten prognostiziert. Auch der Negativzins entfällt.

Notenbanker verlassen nur selten ihre angekündigten Pfade. Christine Lagarde hat es gewagt. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) hat sich kurzfristig aufgrund der aktuellen Lage und hohen Inflation mit ihrem Notenbankrat für eine deutlich höhere Anhebung der Leitzinsen im Euroraum um 50 Basispunkte entschieden, statt der zuvor avisierten Anhebung um nur 0,25 Prozentpunkte.

Treiber dieser Entscheidung war die Rekordinflation im Euroraum von zuletzt 8,6 Prozent im Juni und das vorrangige Ziel der Notenbank-Chefin und ihres Teams, „unser mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen“. Die neuen Zinssätze gelten vom 27. Juli an. Weitere Zinsschritte sollen folgen.

Elf Jahre nach der letzten Zinserhöhung hat die Europäische Zentralbank damit den Ausstieg aus der Nullzinspolitik beschlossen. Zugleich werden die Negativzinsen von 0,5 Prozent, die Banken für geparkte Geldeinlagen bei der Notenbank bezahlen mussten, komplett aufgehoben.

Geld und Leitzinsen: Die hohe Inflation soll eingedämmt werden

Um hoch verschuldete Staaten wie Italien mit der Zinserhöhung nicht zu überlasten, wurde zudem ein neues Anti-Krisen-Werkzeug geschaffen. Mit diesem „Transmission Protection Instrument“ (TPI) kann die EZB mit Anleihekäufen in unbeschränkter Höhe einschreiten, wenn die Zinsen für Wertpapiere eines Staates unverhältnismäßig steigen.

„Der EZB-Rat hielt es für angebracht, einen größeren ersten Schritt auf dem Weg zur Normalisierung der Leitzinsen zu tun, als auf seiner letzten Sitzung signalisiert“, erläuterte Lagarde sachlich in Notenbanker-Wortwahl den Zinsschritt. „Diese Entscheidung basiert auf unserer aktualisierten Einschätzung der Inflationsrisiken.“

Lagarde erwartet, dass die Zinserhöhung „die Rückkehr der Inflation zu unserem mittelfristigen Ziel unterstützen, indem sie die Verankerung der Inflationserwartungen stärkt und dafür sorgt, dass sich die Nachfragebedingungen anpassen, um unser Inflationsziel mittelfristig zu erreichen“.

Doch auch der Notenbank-Chefin ist klar, dass das Problem der hohen Inflationsraten damit noch nicht aus der Welt ist. Der AngriffskriegRusslands auf die Ukraine haben die Energie- und Getreidepreise weltweit in die Höhe getrieben. „Wir gehen davon aus, dass die Inflation aufgrund des anhaltenden Drucks durch die Energie- und Lebensmittelpreise noch einige Zeit unerwünscht hoch bleiben wird.“ Die Inflation in der Eurozone werde deshalb „noch einige Zeit über unserem Zielwert liegen“, sagte Lagarde.

EZB-Chefin: Ukraine-Krieg ist ein Risiko für die Wirtschaft

Ein weiterer Druck gehe auch von der Abwertung des Euro-Wechselkurses aus. Da Öl in Dollar gehandelt wird, verteuern sich dadurch Importe zusätzlich.

Gleichzeitig bezeichnet Lagarde den Arbeitsmarkt in Europa aktuell als stark. Die Arbeitslosigkeit sei im Mai auf ein historisches Tief von 6,6 Prozent gefallen. Viele Stellen seien unbesetzt, was auf eine robuste Nachfrage nach Arbeitskräften hindeute. Das Lohnwachstum halte sich insgesamt noch in Grenzen.

Der Ukrainekrieg stelle dagegen weiter ein erhebliches Risiko dar. „Russlands ungerechtfertigte Aggression gegenüber der Ukraine ist eine anhaltende Wachstumsbremse“, sagte Lagarde. Besonders problematisch würden sich Lieferengpässe von Energie aus Russland auswirken, die zu einer eingeschränkten Versorgung von Unternehmen und Haushalten führen.

Kundinnen und Kunden von Banken werden die Zinsschritte unterdessen bei ihren Geldgeschäften recht schnell bemerken: Die Negativzinsen für Giro- und Tagesgeldkonten dürften bald von allen Geldinstituten aufgehoben werden. Bislang haben dies laut dem Vergleichsportal Verivox bereits 51 Banken und Sparkassen im Vorgriff auf die Zinsentscheidung getan, während 424 Banken ihre Kunden noch mit Negativzinsen zur Kasse bitten.

Geld & Zinsen: Warum Sparer die Gewinner der Zinswende sind

Sparer werden für ihre Einlagen bald wieder Zinsen erhalten, wenngleich diese in vielen Fällen zunächst gering ausfallen dürften. Wer jedoch einen Kredit aufnehmen will, muss tiefer in die Tasche greifen. Raten- und Bauzinsen haben sich bereits in den vergangenen Wochen deutlich verteuert.

Die Zinswende wird von vielen Volkswirten und Ökonomen positiv bewertet. „Damit setzt die EZB ein wichtiges Signal dafür, dass sie gegen die Inflation vorgehen will“, sagte der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest. Sie trage dazu bei, den Anstieg der Inflationserwartungen bei Unternehmen und privaten Haushalten zu dämpfen. „Der Eurokurs wird dadurch stabilisiert, was zu einer Entlastung bei den Importpreisen beiträgt“, so Fuest.

Die DZ-Bank erwartet für dieses Jahr weitere „Leitzinserhöhungen der EZB in mehreren Schritten um insgesamt 1,25 Prozentpunkte“, prognostiziert der Research-Bereichsleiter, Jan Holthusen, gegenüber dieser Redaktion. Die ersten Zinsschritte würden keine deutlichen Auswirkungen auf die Wirtschaft haben. „Davon werden die Euro-Länder nicht in eine Rezession gestürzt.“

Dieser Text erschien zuerst auf abendblatt.de