Berlin. Die Corona-Pandemie hat die Schuldenstände nach oben getrieben. Ökonomen schlagen jetzt Alarm und warnen vor einer zweiten Eurokrise.

Zehn Jahre ist es her, dass Mario Draghi seine berühmteste Rede hielt. Die Europäische Zentralbank (EZB) werde alles tun, um den Euro zu erhalten, sagte der Italiener, damaliger Chef der EZB, am 26. Juli 2012 in London – „whatever it takes“. „Whatever it takes“, übersetzt „was auch immer nötig ist“, ist zur beliebten Redewendung in der Politik geworden. Gerne wird sich heute noch der drei Worte bedient, wenn es darum geht, mit einer Krise fertig zu werden – sei es die Corona-Pandemie oder auch die Energiekrise.

Tatsächlich brachten Draghis Worte damals eine Wende. Vor zehn Jahren befand sich die Währungsunion am Abgrund. Die Bankenkrise hatte wenige Jahre zuvor die Welt erschüttert, Griechenland stand vor dem Bankrott. Doch auch Länder wie Italien und Spanien gerieten unter massive Zahlungsschwierigkeiten. Das Vertrauen an den Finanzmärkten schwand. Dann hielt Draghi seine berühmte Rede – die Märkte beruhigten sich. Die EZB warf die Gelddruckmaschine an, senkte die Zinsen auf null, kaufte massenhaft Staatsanleihen auf. Die Gefahr schien gebannt.

Euro: Zentralbanker haben die Inflation unterschätzt

Doch nun kehren all die Sorgen von damals zurück. Die Corona-Pandemie hat die Schuldenstände der Länder im Euroraum in die Höhe schnellen lassen. Eigentlich sehen die Maastricht-Kriterien vor, dass der öffentliche Schuldenstand eines EU-Mitgliedslandes nicht mehr als 60 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes betragen darf. Tatsächlich halten sich an diese Regel derzeit gerade einmal 13 der 27 EU-Länder. Auch Deutschland liegt mit einer Schuldenquote von 69,3 Prozent über dem verbindlichen Kriterium. Wirklich problematisch aber wird es in anderen Ländern. Griechenland hat eine Schuldenquote von 193,3 Prozent, Italien von 150,8 Prozent.

Solange die EZB die Märkte mit billigem Geld flutete und sich die Staaten aufgrund der historisch niedrigen Zinsen günstig neue Kredite aufnehmen konnte, konnte das ungelöste Problem verdrängt werden. Diese Gleichung geht aber nicht mehr auf. Denn die Zentralbanker in Frankfurt am Main haben ein Phänomen unterschätzt: die Inflation. Bekämpfen kann die Notenbank die Preisdynamik, indem sie an der Zinsschraube dreht. Im Juli wird die EZB erstmals seit elf Jahren die Zinsen wieder anheben. Damit allerdings wird es für die Staaten teurer, sich frisches Geld zu besorgen und die alte Krise könnte wieder ans Tageslicht treten. Ein Dilemma für die Notenbanker.

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„In der gegenwärtigen Konstellation, geprägt durch Nachwirkungen der Pandemie, Auswirkungen des russischen Krieges und nun steigende Zinsen, ist ein Wiederauflammen der Eurokrise nicht auszuschließen“, sagte Andrew Watt, Referatsleiter für Europäische Wirtschaftspolitik im Institut für Makroökonomie (IMK) der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung unserer Redaktion. Ein großes Problem könnte laut Watt die wachsende Kluft der Zinsen zwischen den einzelnen Ländern werden. In Deutschland notiert die zehnjährige Staatanleihe derzeit bei rund 1,27 Prozent.

Eine zweite Eurokrise könnte drohen

Der Anstieg verlief rasant, drei Jahre lang notierte die Bundesanleihe im Minus – eine eigentlich paradoxe Situation: Der Staat erhielt Geld dafür, wenn man ihm einen Kredit gab. Ein Zahlungsausfall des deutschen Staates wurde nahezu komplett ausgeschlossen, daher war eine negative Rendite möglich. Im vergangenen Jahr notierte die zehnjährige italienische Staatsanleihe rund einen halben Prozentpunkt über der Bundesanleihe. Nun aber liegt die italienische Staatsanleihe bereits deutlich über 3 Prozent, zwischenzeitlich knackte sie sogar die 4-Prozent-Marke. Der Abstand zwischen der deutschen und der italienischen Anleihe, im Fachjargon Spread genannt, ist größer geworden.

„Die größte Gefahr geht eindeutig von Italien aus wegen der Kombination von niedrigem Wirtschaftswachstum, hohen Spreads und hoher Verschuldung, sowohl im Verhältnis zum nationalen BIP wie absolut im Vergleich der Mitgliedsländer“, sagt Watt mit Blick auf eine mögliche neue Eurokrise. Damit richtet sich der Blick wieder einmal auf Mario Draghi. Der frühere EZB-Chef ist mittlerweile italienischer Ministerpräsident. Unter ihm ist die italienische Wirtschaft zuletzt wieder gewachsen. Viele strukturelle Probleme aber bleiben.

Achim Truger, Mitglied im Wirtschafts-Sachverständigenrat der Bundesregierung, den sogenannten Wirtschaftsweisen, sieht in den derzeitigen Risikozuschläge bei hoch verschuldeten Staaten ebenfalls ein Problem. „Kommt es dort aufgrund von Spekulation oder Überreaktionen zu einem extremen Anstieg, könnten einzelne Länder in Zahlungsschwierigkeiten kommen. Dann würde in der Tat eine zweite Eurokrise drohen“, sagte Truger unserer Redaktion. Er warnt vor einer „hektischen Kürzungspolitik“ wie in der ersten Eurokrise. Stattdessen brauche es Wachstum und Zeit, um die Staatsschulden zu verringern. „Oberlehrerhafte Ratschläge aus Deutschland sind – gerade wegen offensichtlicher eigener Fehler bei der Energiepolitik – verfehlt“, mahnt Truger.

Neue Euro-Krise? Das könnte helfen

Die derzeitige Lage ist dabei besonders brisant. „Putin würde sich über einen Zusammenbruch des Euro und politische Instabilität in der EU sicher freuen“, meint Truger. Zugleich stellt sich die Frage, wo das Wachstum herkommen soll, mit dem die Staaten aus den Schulden herauswachsen könnten. Das Schreckgespenst Stagflation, die Kombination aus steigenden Preisen bei einer gleichzeitig stagnierenden Wirtschaftsleistung, geht bereits um.

Für die Politik der EZB sei das Gift, sagt Henning Vöpel. Die Zentralbank könne nicht auf der einen Seite die Finanzierungsmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten künstlich günstig halten und auf der anderen Seite glaubhaft die Inflation bekämpfen, meint der frühere Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) und jetzige Vorstand der Freiburger Denkfabrik Centrum für europäische Politik (cep).

Bei der EZB ist man deshalb bereits auf eine neue Idee gekommen: die Einführung eines sogenannten Anti-Fragmentierungswerkzeuges. Prinzipiell würde das den bisherigen Kaufprogrammen ähneln. Die EZB würde gezielt Staatsanleihen von kriselnden Euroraum-Staaten aufkommen, um ein weiteres Auseinanderklaffen zwischen den Renditen von etwa italienischen und deutschen Staatsanleihen zu verhindern.

Reformunfähigkeit in Frankreich als hohes Risiko

Dadurch allerdings würde die politische Abhängigkeit steigen und die Gefahr zukünftiger Krisen nur weiter zunehmen, mahnt Vöpel. Ökonom Watt fürchtet, dass die EZB überfordert sein könnte, gleichzeitig die Fragmentierung durch Anleihekäufe zu verhindern und die Inflation zu bekämpfen. Und auch Clemes Fuest, Chef des Ifo-Instituts mahnt: „Fiskalpolitik ist nicht die Aufgabe der EZB. Sie sollte sich auf Inflationsbekämpfung konzentrieren.“

Während die meisten Ökonomen sorgenvoll nach Italien oder Spanien blicken, wendet Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), seinen Blick überraschenderweise in ein deutsches Nachbarland. „Das größte Risiko für die Eurozone scheint mir die Reformunfähigkeit und die politische Destabilisierung in Frankreich zu sein“, sagte Hüther unserer Redaktion.

In Frankreich ist die Schuldenquote zuletzt auf rund 113 Prozent geklettert. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire sprach sich bereits für neue Schuldenregeln aus. Die 60-Prozent-Grenze bei den Schulden hält er für „obsolet“. Für Ökonom Hüther lässt das „nichts Gutes“ erwarten. Ein bisschen Hoffnung macht der IW-Chef dann aber doch noch: Aufgrund der mit dem Wiederaufbaufonds verbundenen Reformen würden die Bedingungen in der Eurozone Mitte des Jahrzehnts deutlich stabiler sein. Die Kredite der südlichen Länder hätten zudem lange Laufzeiten, die Bankbilanzen seien entlastet. Ob das reicht, um eine neue Eurokrise zu verhindern, dürfte sich schon sehr bald zeigen.

Dieser Artikel ist zuerst auf abendblatt.de erschienen.