Stuttgart/Berlin. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hält die Nachrüstung von alten Selbstzündern für unzureichend. Ein wegweisendes Urteil wurde gefällt.

Das Stuttgarter Verwaltungsgericht hat beim Streit um Fahrverbote in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ein womöglich wegweisendes Urteil gefällt. Danach sind Fahrverbote geboten, wenn die Grenzwerte für Stickoxide anders nicht eingehalten werden können. „Das Verkehrsverbot verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“, betonte der Vorsitzende Richter Walter Kern, „weil der Gesundheitsschutz höher zu gewichten ist, als das Recht auf Eigentum.“ Auch die Handlungsfreiheit der Autobesitzer wiegt nach Ansicht des Gerichts weniger.

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte gegen den Luftreinhalteplan des Landes Baden-Württemberg geklagt. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann wollte mit diesem Plan Fahrverbote in Stuttgart verhindern. Hauptargument dabei ist die von der Industrie angekündigte Nachrüstung älteren Diesel durch ein Software-Update. Damit soll der Schadstoffausstoß verringert werden. Diese Maßnahme überzeugte die Richter nicht. Selbst bei einer angenommenen freiwilligen Umrüstung von 100 Prozent des Fahrzeugbestands könne dies allenfalls zu einer Reduzierung der überschrittenen Grenzwerte um neun Prozent führen, kritisieren die Richter.

Maximale Luftbelastung überschritten

Schon in der Verhandlung vor einer Woche ließ Kern erkennen, dass er von unverbindlichen Zusagen der Industrie nichts hält. Einen wirksamen Schutz vor zu hohen Emissionen sieht das Gericht derzeit nur in Fahrverboten für Benziner unterhalb der Norm Euro 3 sowie für Diesel unterhalb der Norm Euro 6. Ab dem 1. Januar könnte der Ernstfall für die betreffenden Autobesitzer damit eintreten. Doch noch ist offen, ob das Urteil auch rechtskräftig wird. Denn das Land kann nun entweder den Verwaltungsgerichtshof in Mannheim oder gleich das Leipziger Bundesverwaltungsgericht anrufen. „Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache“ hat Kern die Berufung zugelassen.

Stuttgart ist aufgrund seiner Kessellage besonders von Schadstoffen belastet, weil der Luftaustausch geringer ist als anderswo. Mit zu hohen Stickoxidwerten haben jedoch auch viele andere Kommunen zu kämpfen. Nach Angaben des Umweltbundesamtes (UBA) wird derzeit in 89 Städten die maximale Luftbelastung mit durchschnittlich 40 Mikrogramm Stickoxid überschritten. Zumindest in München und Berlin stehen auch schon Fahrverbote zur Diskussion. Daher kann der Urteilsspruch wegweisend sein, sofern er bestätigt wird.

VW-Schwindel in den USA aufgedeckt

Wenige Tage vor dem Diesel-Gipfel von Politik und Industrie, der am kommenden Mittwoch in Berlin stattfindet, wird ein zentraler Lösungsvorschlag für das Schadstoffproblem mehr und mehr in Zweifel gezogen. Die Industrie hat angeboten, die Hälfte der Diesel-Fahrzeuge der Euro-5-Norm mit einem Software-Update nachzurüsten. Den Effekt halten nicht nur die Richter, sondern auch Autoexperten für unzureichend.

Das UBA erwartet nur eine geringe Entlastung der Umwelt dadurch. Auch der Wirtschaftschemiker Peter Mock, dessen Organisation den VW-Schwindel in den USA aufdeckte, fordert den Einbau besserer Abgasreinigungstechnik anstelle einer kleinen Softwarelösung. DUH-Chef Jürgen Resch sieht sich als Sieger auf ganzer Linie. „Das war eine Ohrfeige mit Ansage“, sagte er nach der Urteilsverkündung. Kretschmann habe sich, statt allen Seiten gegenüber offen zu sein, „allein mit dem kriminellen Teil der Industrie zusammengesetzt“. Insgesamt klagt die DUH in 15 Kommunen auf Fahrverbote. Die ersten Prozesse wurden gewonnen. Im September steht laut Resch in Hessen die nächste Verhandlung an.

Fahrt in die Umweltzonen gestattet

Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) wollte sich noch nicht auf eine Berufung festlegen. Das Urteil werde zunächst geprüft. Ob es zu Fahrverboten komme, könne noch nicht gesagt werden. Für den grünen Bundestagsabgeordneten und Verkehrsexperten Matthias Gastel trägt Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) die Verantwortung für eventuelle Verkehrsbeschränkungen. „Er blockiert seit Jahren die Initiativen, auch aus Baden-Württemberg“, wirft der Politiker dem Minister vor. Dabei geht es um die Einführung einer sogenannten Blauen Plakette, die nur ausreichend sauberen Fahrzeugen die Fahrt in die Umweltzonen der Städte gestattet. Dobrindt lehnt diese ab.

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sieht nun die Hersteller in der Pflicht. „Reine Software-Updates werden nicht ausreichen“, sagte Hendricks am Freitag, „das ist klar.“ Beim Gipfeltreffen in der kommenden Woche, bei dem sie neben Dobrindt Gastgeberin ist, erwartet Hendricks effektive Vorschläge der Industrie zur Vermeidung von Fahrverboten. Unterdessen steigt der Druck auf die Beteiligten in Politik und Wirtschaft durch die jüngste Entwicklung bei Porsche noch weiter an. Dobrindt hat den Rückruf des Geländewagens Cayenne eingeleitet. Neue Fahrzeuge des Modells erhalten keine Zulassung mehr.

Verbraucherschützer bleiben draußen

Grund dafür ist der Nachweis einer gewieften Abschaltvorrichtung bei der Abgasreinigung. Das Fahrzeug erkennt, wann es auf dem Prüfstand ist und hält nur dort die vorgeschriebenen Grenzwerte ein. Damit ist auch die Konzernschwester Audi wieder im Visier der Ermittlungen, da Audi den betreffenden Motor liefert. Von der Rückrufaktion sind nur vergleichsweise wenige Kunden betroffen. 22.000 Fahrzeuge stehen in Rede. Vor dem Diesel-Gipfel wächst auch die Kritik an der Zusammensetzung der Runde. Geladen sind nur die Ministerpräsidenten der Autoländer und die Vertreter der Industrie. Verbraucherschützer oder auch die Deutsche Umwelthilfe, die den Skandal maßgeblich mit aufdeckte, bleiben draußen.

„Ich werde am Mittwoch vor der Tür stehen“, kündigt aber schon mal DUH-Chef Resch an. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart zur Luftreinhaltung wird nach Ansicht des Autoexperten Ferdinand Dudenhöffer gravierende Folgen für Dieselfahrer haben. Die Gebrauchtwagenpreise dürften nun in den Keller gehen, sagte der Professor der Universität Duisburg-Essen am Freitag dem Südwestrundfunk. „Die deutschen Autobauer müssen sich genau überlegen, wie weit sie noch mit dem Diesel kommen.“

Fahrverbote als wirksames Mittel

Kunden, die 100.000 Euro für ein Fahrzeug ausgäben und verschämt zu Boden gucken müssten, weil ein Nachbar frage, wie umweltfreundlich das Fahrzeug sei – das könne man sich in der Zukunft nicht mehr erlauben, meinte Dudenhöffer. Die Autobauer müssten mit klaren Gesetzen zum Handeln gezwungen werden. Laut Gericht sind nur Fahrverbote für Diesel ein wirksames Mittel, um die Luftbelastung mit giftigem Stickstoffdioxid schnellstmöglich zu reduzieren. Gesundheitsschutz sei höher zu bewerten als Interessen der Dieselfahrer, argumentierte das Verwaltungsgericht.

Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt setzt ungeachtet des Urteils zu weiter möglichen Fahrverboten in Stuttgart auf Abgas-Nachbesserungen bei Diesel-Autos. Wenn man die Möglichkeit habe, schnell an der Quelle den Ausstoß von Stickoxiden (NOx) zu reduzieren, spreche kein Argument dafür, es nicht zu tun, sagte der CSU-Politiker am Freitag in Berlin. Bisherige Erfahrungen mit verschiedenen Herstellern hätten gezeigt, dass mit solchen Software-Updates erhebliche NOx-Einsparungen zu erreichen seien.

Autobranche ist am Zug

Mit Blick auf die Kosten für die nun notwendigen Nachrüstungen machte Dobrindt klar: „Die Umrüstungen, die möglicherweise vereinbart werden, werden natürlich von der Autoindustrie zu finanzieren sein.“ Er bekräftigte sein Nein zu generellen Fahrverboten, die etwa über eine blaue Plakette umgesetzt werden könnten. „Ein Aufkleber auf einem Auto verändert nicht das Abgasverhalten eines Autos.“

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks sieht nun die Autobranche am Zug. Es sei höchste Zeit, „dass die Autoindustrie in eigener Verantwortung dafür sorgt, dass es nicht zu Fahrverboten kommt“, sagte die SPD-Politikerin am Freitag in Hamburg. Eine Kennzeichnung wie die blaue Plakette für nachgerüstete Fahrzeuge werde aus praktischen Gründen notwendig. An die
Adresse von Bundesverkehrsminister Dobrindt sagte Hendricks, man hätte früher etwas tun können und müssen: „Die Zeichen der Zeit waren ja eigentlich seit zwei Jahren spätestens erkennbar.“