Online-Spiele

Internetsucht wird zum Massen-Phänomen

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Ingmar Höhmann

Foto: car_wst / dpa

Neuen Zahlen zufolge sind mehr als eine Million Deutsche süchtig nach Computerspielen im World Wide Web. Forscher schlagen jetzt Alarm: Die sozialen Auswirkungen des Phänomens sind enorm. Doch die Politik debattiert lieber über Killerspiele.

Christine Hirte hat ihren Sohn ans Internet verloren. Vor zwei Jahren meldete sich der Informatikstudent für das Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ an. Mit drei Freunden begann er, in einer virtuellen Welt Elfen, Orks und andere Fabelwesen zu bekämpfen. „Er verbrachte Tag und Nacht im Internet. Er sagte immer, er müsse damit aufhören. Wir haben unser Bestes versucht, aber er hat es nicht geschafft“, sagt Hirte. Heute hat der 23-Jährige wie seine drei Mitstreiter das Studium abgebrochen, seine verlotterte Studentenwohnung verlassen und ist bei einer Internetbekanntschaft untergeschlüpft. Auf Anraten einer Suchtberatungsstelle haben die Eltern die Zahlungen eingestellt. „Das war hart für uns, aber wir hoffen, dass er so ins reale Leben zurückkehrt“, sagt die Mutter.

Die Internetsucht des Sohnes hat nicht nur die Familie Hirte gesprengt. Die Abhängigkeit von Computerspielen hat sich zu einem gesellschaftlichen Problem entwickelt. Immer mehr Deutsche vernachlässigen Frau, Kinder, Beruf oder Schule, während sie bis zu 20 Stunden am Tag vor dem Bildschirm verwahrlosen. Nach einer Studie der Interdisziplinären Suchtforschungsgruppe der Berliner Charité (ISFB) ist mehr als jeder zehnte Computerspieler süchtig – das sind Schätzungen von Experten zufolge deutschlandweit etwa 1,5 Millionen.



Mit Beginn des Internetzeitalters hat das Problem eine neue Dimension erreicht. Online-Rollenspiele wie „World of Warcraft“ – mit weltweit 8,5 Millionen Teilnehmern Marktführer – ziehen Spieler über Jahre in ihren Bann und belohnen diejenigen, die im Cyberspace die meiste Zeit verbringen. Über sogenannte Gilden verabreden sich die Spieler täglich zu Online-Feldzügen. Wer nicht mitmacht, wird ausgeschlossen. So schaffen sich viele ein soziales Umfeld, das es nur noch im Internet gibt und Tag für Tag zur Teilnahme zwingt. „Kinder berichten uns, dass sie sich nachts den Wecker stellen, um mit ihrer Gilde zu spielen. Weiterhin verstehen sie ihre virtuelle Gemeinschaft auch als Freundeskreis, denn da sei wenigstens jemand“, sagt ISFB-Leiterin Sabine Grüsser-Sinopoli.

Immer wieder gern gefordert: das Verbot von Killerspielen

Die Wissenschaftler fordern ein Einschreiten der Politik – denn die Abhängigkeit sei mit Alkoholsucht vergleichbar. „Die Zahlen sind alarmierend und fordern die sofortige Umsetzung flächendeckender gesundheits- und ordnungspolitischer Jugend- und Spielerschutzmaßnahmen“, sagt Grüsser-Sinopoli. Durch günstige Internetflatrates und den leichten Zugriff seien Online-Rollenspiele längst weitverbreitet. Sie schlägt vor, Kauf und Nutzung einzuschränken, Spieler über das Suchtpotenzial aufzuklären und ein funktionierendes Hilfesystem aufzubauen.

Doch während die neue Sucht um sich greift, ist die Politik noch weit davon entfernt, Lösungen zu suchen. Stattdessen fordern Politiker wie Bayerns Innenminister Beckstein oder Niedersachsens Innenminister Schünemann gebetsmühlenhaft das Verbot sogenannter Killerspiele, die sie verdächtigen, Jugendliche zu Amokläufern zu machen. Dabei sieht die Wirklichkeit ganz anders aus: Die Spieler werden höchstens zu einer Gefahr für sich selbst, weil sie in ihrer Abhängigkeit vom Computer das Haus gar nicht mehr verlassen.

Ausländische Experten sind sich ebenfalls nicht einig

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing, kann kaum auf politische Unterstützung hoffen. „Aktuell liegt der Fokus des Gesetzgebers hinsichtlich Computerspielen auf einer strengeren Regulierung der Gewaltdarstellungen“, sagt Bätzing. Dabei stellt für sie das Phänomen Computerspielsucht ein zunehmendes Problem dar. Weil es aber kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt, ist die Krankheit nicht einmal als solche anerkannt. Wer eine Therapie in Anspruch nehmen will, muss selbst bezahlen oder bei der Krankenkasse auf psychische Störung plädieren. Bätzing fordert weitere Studien, um die Sucht besser zu verstehen.

Auch im Ausland streiten sich die Experten. Eine Gruppe innerhalb der US-Medizinervereinigung American Medical Association (AMA) stellte vor kurzem den Antrag, Computerspielsucht als psychiatrische Störung anzuerkennen. Nach Protesten ruderte die Organisation zurück. Zwar sei die AMA besorgt über die Auswirkungen auf Verhalten und Gesundheit, aber es seien noch mehr Studien über das Suchtpotenzial von Computerspielen nötig, sagt AMA-Präsident Ronald Davis. Eine Anerkennung der weltweit renommierten Vereinigung wäre auch in Deutschland auf großes Echo gestoßen.

Der Bedarf an Hilfe ist groß

Planungen zufolge soll an der Uni-Klinik Mainz bald eine Ambulanz eröffnen, die sich auf die Behandlung von Computerspielsüchtigen spezialisiert. Während andere Länder wie die USA längst über Spezialkliniken verfügen, wäre es in Deutschland die erste derartige Einrichtung. Bisher sind die Abhängigen auf sich selbst angewiesen. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Internetseiten, auf denen sich Süchtige austauschen und verzweifelte Angehörige Unterstützung suchen. Einige selbst ernannte Suchthelfer bieten gar E-Mail-Beratung gegen Bezahlung an. Auch das Ehepaar Hirte hat auf www.rollenspielsucht.de ein Internetforum gegründet – und ist von einer ganzen Anfragewelle überrollt worden. In den ersten zwei Monaten gab es 11000 Zugriffe.

Die Sucht betrifft nicht mehr nur Jugendliche, sondern hat längst den Siegeszug in die Erwachsenenwelt angetreten. „Bei uns melden sich Rechtsanwälte, die wegen Internetsucht ihre Praxis aufgegeben haben, und verzweifelte Ehefrauen, die mit den Kindern dastehen, während der Mann nur noch am Computer zockt und nicht mehr zur Arbeit geht“, sagt Christine Hirte. Sie versteht nicht, warum die Politik sich nicht mehr mit dem Thema auseinandersetzt. „Wir wollen, dass vor allem jüngere Kids besser geschützt werden. ,World of Warcraft' spielen schon 12-Jährige.“ Hilfe gebe es im Grunde bisher nicht, sagt die Mutter. „Dabei ist Sucht letztendlich gleich Sucht.“

Quelle: Welt Online

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