Hamburg. Was meinen wir mit dem Wort Globalisierung? Der Begriff "Globalisierung" ist neu, aber einen umfangreichen und bedeutenden weltweiten Handel hat es schon zu Zeiten von Marco Polo und Vasco da Gama oder der Hanse gegeben. Wirklich neu ist der enorme Zuwachs an Menge und Geschwindigkeit. Während China und die Sowjetunion sich fast völlig gegen den globalen Handel abgeschottet hatten, nehmen sie heute voll und ganz daran teil. Hinzu kommt, dass das Volumen der Im- und Exporte sich vervielfältigt hat. Dieser Quantensprung, an dem fast alle 200 Staaten der Welt teilhaben, wurde ermöglicht durch eine sprunghafte Verbesserung der Qualität im Transportwesen und in der Kommunikation. (. . .)
Und wir müssen mit einem Andauern des Beschleunigungsprozesses in Wissenschaft und Technik rechnen. Ebenso ist ein Fortschreiten der relativ schnellen Globalisierung sämtlicher wissenschaftlicher und technologischer Innovationen zu erwarten. Ob wir nun die Möglichkeit der Transplantation des Herzens eines Verstorbenen in den Körper eines anderen Menschen bestaunen, der dann mit dem Herzen eines Fremden weiterlebt, ob wir an die jüngsten gentechnologischen Entdeckungen und Erkenntnisse denken, oder ob wir die neuen Techniken in der Automobilindustrie, bei den Raketen- und Waffensystemen betrachten: Alle diese neuen Techniken - ob sie in Tokio oder in Bangalore, in Stanford/Kalifornien, in Beijing oder in Eindhoven in den Niederlanden entwickelt wurden - werden rund um den Globus verfügbar sein. Auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik sind wir Mitglieder einer einzigen großen Weltgemeinschaft und leben insofern wie in einem "globalen Dorf". Es ist sinnlos, gegen die Globalisierung von Technologie zu protestieren und dagegen zu kämpfen, denn sie wird unweigerlich weitergehen!
Das Gleiche gilt für die Globalisierung des Handels mit Waren und Dienstleistungen. Nehmen wir zum Beispiel Deutschland: Wir sind gerade mal rund 80 Millionen Menschen, aber wirtschaftlich sind wir mit fast allen anderen der 200 Staaten dieser Erde verbunden; wir exportieren über 40 Prozent unseres Bruttosozialprodukts, während wir gleichzeitig fast 40 Prozent unseres Nettosozialprodukts importieren. Sollte eine deutsche Regierung den Versuch unternehmen, diesen hohen Grad der Globalisierung unserer Wirtschaft herunterzufahren, dann wäre unweigerlich ein erheblicher Verlust an Arbeitsplätzen und ein Absinken unseres Lebensstandards die Folge. (. . .)
Ein anderes Beispiel ist das China von heute. Sollten etwa, bedingt durch eine politische Katastrophe, die chinesischen Exportartikel nicht mehr von Kunden in Amerika, in Europa, in Japan und in den Asean-Staaten gekauft werden, so würde dies in China ebenso unweigerlich zu einer wirtschaftlichen Katastrophe führen. Oder nehmen wir als drittes Beispiel die USA. Sollte aus irgendeinem politischen Grund das Vertrauen der Welt in die Vitalität der amerikanischen Volkswirtschaft schwinden und sollte deshalb der gewaltige Nettozustrom ausländischer Kapitalien und Ersparnisse in die Vereinigten Staaten enden - das sind, nebenbei bemerkt, immerhin sieben Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts! - dann käme es in den USA zu einer schweren Rezession, wenn nicht sogar zu einer Wirtschaftskrise. Was können wir aus diesen drei Beispielen lernen? Dass es keine realistische Chance gibt, unsere Wirtschaft zu renationalisieren, dass wir in Wahrheit die Globalisierung der Wirtschaft nicht aufhalten können. Und wenn wir die Globalisierung nicht verhindern können, dann müssen wir uns auf ihre Folgen vorbereiten! Und wir müssen versuchen, den Prozess der Globalisierung gemeinsam mit den anderen großen Staaten zu kanalisieren, seine Vorteile zu nutzen und seinen Gefährdungen entgegenzutreten. (. . .)
In meiner persönlichen Einschätzung bedarf eine gemeinsame Anstrengung zur Erhaltung des Gleichgewichts in der Weltwirtschaft einer regelmäßigen Abstimmung zwischen den ehemals sieben, heute acht, alten Industrienationen; jedoch muss man China, Indien und Brasilien - plus mindestens eines der größeren Öl exportierenden Länder wie zum Beispiel Saudi-Arabien, plus eines der größeren, zurzeit noch nicht industrialisierten Entwicklungsländer Afrikas wie Nigeria, Südafrika oder Ägypten einbeziehen. Ich würde mir sogar Indonesien und Mexiko noch dazuwünschen. (. . .)
Wenn man - rein theoretisch! - die Globalisierung der deutschen Wirtschaft zurückfahren könnte, so würde unsere Arbeitslosigkeit abermals steigen und unser Lebensstandard würde allgemein sinken. Unsere im Vergleich zu Holland oder Österreich oder ganz Skandinavien ungewöhnlich hohe Arbeitslosigkeit hat ja aber ihre Ursachen nicht in China oder Südkorea oder in den USA, sondern sie ist entscheidend verursacht durch die in Deutschland und in der ganzen EU wuchernde bürokratische Gängelei. Besonders in Deutschland sind der Arbeitsmarkt und die Arbeit und ebenso die Einkommen- und Lohnsteuern und die Sozialleistungen aller Art unverhältnismäßig überreguliert und von Staats wegen bürokratisiert. Sie können und müssen - völlig unabhängig von der Weltwirtschaft - reformiert werden! Das Gleiche gilt für die dringend nötige arbeits- und sozialpolitische Anpassung an die außerordentlich gestiegene Lebensdauer jedes Einzelnen und an die Überalterung unserer Gesellschaft insgesamt. Wenn heute in Deutschland ein soeben geborenes männliches Baby eine Lebenserwartung von 77 Jahren hat, so sollte es eigentlich klar sein, dass der Junge nicht mit 61 Jahren in Frührente gehen kann und so dann weitere 16 Jahre von der Rente leben kann.
Nur um jedes Missverständnis auszuschließen, füge ich hinzu: Alle die hier nur angedeuteten Reformbedürfnisse haben sich keineswegs aus der Globalisierung ergeben! Ebenso ist wahr: Die allermeisten der nötigen Reformen können im Rahmen der innerstaatlichen Kompetenzen herbeigeführt werden - ob Sie an die Beseitigung der Allgemeinverbindlichkeit von flächendeckenden Lohntarifen denken, an die Wiederherstellung des Renteneintrittsalters mit dem 65. Lebensjahr oder an die Beseitigung von Hunderten Ausnahmen und indirekten Subventionen in der Einkommensbesteuerung. So viel zur Strukturpolitik. (. . .)
Das Jahr 1992 und der Vertrag von Maastricht zu zwölft stellt aus heutiger Sicht, nach anderthalb Jahrzehnten, den bisherigen Höhepunkt der europäischen Integration dar. Seitdem aber haben wir eine Gipfelkonferenz, eine Regierungskonferenz nach der anderen erlebt; wir haben großartige Reden über eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik hören und feierliche Deklamationen lesen müssen. Aber tatsächlich hat sich die heutige Europäische Union von 27 Mitgliedern seit Beginn des Irak-Krieges heute vor fünf Jahren als handlungsunfähig gezeigt. (. . .) Die Europäische Union hat sich aus der Weltpolitik verabschiedet. Stattdessen erlässt die EU Vorschriften über Zigarettenreklame, über Drahtseilbahnen und tausend andere überflüssige bürokratische Dekrete.
Der bei Weitem bedeutsamste und in seiner Auswirkung zugleich schädlichste Akt war die schlagartige Erweiterung von 15 auf 25 Staaten im Jahr 2004 - mit Rumänien und Bulgarien sogar 27 Staaten; wenn dann Kroatien und die Türkei hinzukommen sollten, würden wir 29, mit Mazedonien gar 30 Mitgliedsstaaten sein. Und hinter der Türkei würden Albanien, Algerien und andere Staaten gleicherweise vor der Tür stehen. Dazu aber Freizügigkeit für alle Menschen in den Mitgliedsstaaten!
Man hat die Lehre vom schrittweisen Vorgehen auf sträfliche Weise verletzt. Als die Staatslenker zehn neue Mitgliedsstaaten auf einmal aufgenommen haben, haben sie in sträflicher Weise versäumt, vorher die Verfahren, die Verteilung der Kompetenzen auf das Parlament, auf die Ministerräte, jeder mit 27 Mitgliedern, und auf die Kommission mit 27 Mitgliedern zu klären. (. . .) Immer noch gilt in den wichtigen Fragen das Prinzip der Einstimmigkeit, jedermann hat ein Vetorecht. Immer noch sind die Rechte des Europäischen Parlamentes ganz unzureichend. Zugleich wächst die Brüsseler Bürokratie von Jahr zu Jahr; denn jeder der 27 Kommissare hat seinen eigenen Stab. Man braucht sich nur die BASF oder Bayer mit 27 gleichberechtigten Vorstandsmitgliedern vorzustellen, um die Struktur der heutigen Europäischen Kommission in Brüssel als absurd zu begreifen. (. . .)
Man kann die Möglichkeit einer neuerlichen Währungs- und Wechselkurskrise keineswegs ausschließen. Die enormen Überschüsse in der chinesischen und japanischen Handelsbilanz sowie das enorme amerikanische Handelsdefizit verheißen nichts Gutes für die Stabilität des Verhältnisses der großen Währungen untereinander. Eine solche Situation ist eine ständige Einladung für Tausende Spekulanten in den großen Finanzzentren der Welt. Keiner der über 9000 Hedgefonds steht unter Bankaufsicht, obgleich sie tausendfach größere Beträge über den Atlantik und den Pazifik hin- und herbewegen als etwa eine unter Bankaufsicht stehende Landesbank in Deutschland. (. . .) Genauso wie der globale See- oder Luftverkehr strikten Sicherheits- und Verkehrsregeln unterliegt, bedarf der globale Kapitalverkehr der Regulierung, damit Katastrophen vermieden werden. Das ist ein Gebot der vorsorgenden Vernunft - von Anstand und Moral ganz zu schweigen. Da der Internationale Währungsfonds seine wichtigste Aufgabe schon vor drei Jahrzehnten verloren hat, erscheint es denkbar, den IWF mit einer neuen Aufgabe zu betrauen: nämlich der Entwicklung eines neuen transnationalen Systems zur Überwachung und Kontrolle der Finanzmärkte und aller, die sich daran beteiligen.
In dieser ungewissen Zukunft kann sich der Euro als ein stabilisierendes Element erweisen. Ich erwarte binnen zwei Jahrzehnten, dass sich zwischen dem US-Dollar, dem Euro und dem chinesischen Renminbi ein Dreieck von Weltwährungen ergibt. Daraus ergibt sich ein Zwang zur Kooperation zwischen den drei Zentralbanken und - hoffentlich! - ein Zwang zur Kooperation der Finanzaufsichtsbehörden. (. . .)
Wenn wir unseren Sozialstaat modernisieren und ihn dadurch erhalten, wenn wir die Arbeit entregulieren, wenn wir den sozialen Frieden aufrechterhalten, so braucht kein Deutscher vor der Globalisierung Angst zu haben. Im Gegenteil: Die bisherige Leistung der deutschen Wirtschaft und ihrer Unternehmungen, ob groß oder klein, ihrer Arbeitgeber und Gewerkschaften hat ein hohes Maß an Globalisierung gut bewältigt. Es gibt keinen Anlass zu fürchten, wir könnten in Zukunft weniger tüchtig sein.
Allerdings gilt das alles nur unter einer Bedingung von kardinaler Bedeutung: Nur wenn wir in der Spitze des technologischen Fortschritts bleiben, nur dann werden wir unseren hohen Lebensstandard halten und weiterhin steigern können.
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