Künstlernachlass: Was wird aus dem Oeuvre?

Alles nur geschenkt

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Diana Zinkler

Künstler lassen eine Menge zurück, wenn sie die Welt verlassen. Bilder, Modelle, Skulpturen und Schriften. Wohin mit dem Lebenswerk? Angehörige können dem historischen Anspruch oft allein nicht gerecht werden. Ein Hamburger Verein für Künstlernachlässe nimmt das Erbe an. Aber nur geschenkt.

Vom Sofa aus hat er den größten Abstand zum Bild. So kann er Distanz zu seiner aktuellen Arbeit aufbauen. Auf der etwa ein mal ein Meter großen Leinwand ist eine wild tanzende Gruppe von Menschen zu erkennen, vielleicht laufen sie auch vor etwas weg. Jedenfalls sind sie in Bewegung. Im Vordergrund des Bildes steht ein Flötenspieler, unbewegt - wie eine Statue aus Bronze. Und ganz hinten, hinter der Menge, feiern ein paar andere in einem Käfig, ebenfalls erstarrt, aber zu weißem Stein, eine Orgie. Um das Geschehen also genau beobachten zu können und die Details zu überprüfen, braucht der Künstler Heinz Schrand diesen Abstand. Deshalb sitzt er auf dem Sofa in seinem Atelier. Und neben ihm auf dem Sofa liegen ein paar Seiten Papier, ein "Schenkungsvertrag über ein Künstlerwerk". Auch damit hat er Distanz hergestellt, nicht zu seinem Werk, sondern zu seinem Leben.

Heinz Schrand wird in einem Monat 82 Jahre alt. Er ist also alt genug anzunehmen, dass sein Leben irgendwann ein Ende hat. Schrand ist Realist, nicht nur in der Kunst, sondern auch im Leben. Er macht sich Gedanken über die Zeit nach seinem Tod und darüber, was dann mit seinem Werk passiert. Etwa 200 Blätter seines grafischen Werkes, Holzschnitte, Druckgrafiken und Radierungen hat er gerade dem Forum für Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern geschenkt, man kann auch sagen gestiftet. Der Hamburger Verein ist jetzt knapp fünf Jahre alt.

"Als ich von der Gründung hörte, dachte ich gleich: Ich bin dabei", sagt Heinz Schrand. Sein Atelier befindet sich im kleinen Anbau im Garten seines Hauses in Volksdorf. Neben den Grafiken für das Forum hat er auch dem Hamburger Museum zwölf seiner Zeichnungen, Hamburgensien wie er sie nennt, vermacht. Zum einen wisse er seine Bilder auf diese Weise gut aufgehoben, zum anderen bringt ihm diese Schenkung noch zu Lebzeiten Aufmerksamkeit, weil das Forum zweimal im Jahr seine Nachlass-Werke ausstellt. Schrand wird nun auch dazugehören, obwohl er gar nicht tot ist.

Auf seinen Bildern ist oft Bewegung zu erkennen oder das "Drama des Lebens", wie er sagt. Dieses Drama gelte es möglichst genau wiederzugeben. "Kunst ist Kalkül", sagt er "und Wissen um die Geschichte." Man könne nicht kunstschaffend sein, ohne sich seiner Vorgänger bewusst zu sein. "Alles andere ist naiv." Man müsse die Vergangenheit annehmen und sich darüber verändern. Auch persönliche Verluste, Tod oder Scheitern bezieht er in diese Geschichte mit ein, nur so könne man ein "Neuer" werden oder auch wirklich Neues schaffen.

Im Prinzip folgt man beim Forum für Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern einem ähnlichen Kunstverständnis wie Schrand. Der Ort, an dem der Verein untergebracht ist, steht ebenfalls in der Tradition des künstlerischen Geschichtsbewusstseins. Im Künstlerhaus Sootbörn in Niendorf haben lebende Künstler ihre Ateliers und der Verein für die Nachlässe zwei Räume, eine Abstellkammer und eine Art Verschlag. In den Zimmern reichen die Regale, in denen die Bilder lagern, bis zum Dach. In der Mitte steht ein großer Konferenztisch für Besprechungen, aber auch für die Sichtung und Archivierung der Werke. Die Räume in dem 1929 von Architekt Ernst Wilhelm Langloh im Bauhausstil errichteten Bau und die Arbeit der ehrenamtlichen Mitarbeiter werden über Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert. Zurzeit arbeiten auch zwei Ein-Euro-Jobber beim Verein mit und ersetzen die fehlende Arbeitsstelle. Vor einer Woche ist beim Forum das Werk des verstorbenen Bremer Künstlers Heinz Lilienthal eingetroffen. Vor ihm haben es nur etwa ein Dutzend anderer Künstler geschafft, aufgenommen zu werden. "Die Nachfrage ist wirklich groß", sagt die Kunsthistorikerin Gora Jain; sie gehört zum Vorstand des Vereins. Hauptberuflich unterrichtet sie Kunst an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel und der Akademie für Mode und Design in Hamburg. 60 bis 70 Anfragen hätte der Verein bereits gehabt.

Im zweiten Raum, in dem Lilienthals Werk bisher noch ungeordnet steht, riecht es nach Staub. Lilienthal hat viel Kunst am Bau gemacht, das heißt: Kirchenfenster entworfen, Reliefs für Wände und Räume gestaltet. Was sein Sohn dem Verein nun übergeben hat, sind Bilder und Modelle. Motive, die wie von hinten beleuchtete Kirchenfenster wirken. Aber auch autografisches Material wie Schriften oder Filmaufnahmen sind mitgegangen. In einer grauen Mappe finden sich Übungen, Aktzeichnungen aus dem dritten und vierten Semester an der Kunsthochschule Bremen, die er von 1946 bis 1949 besucht hat. Die Reste eines Künstlerlebens.

Gora Jain findet das Werk Lilienthals "unglaublich konsequent und ästhetisch". Sie steht in der Mitte des Raumes. Um sie herum Lilienthals Leben, sie wird es nun für die Nachwelt verwalten. "Alle schaffen für die Ewigkeit, aber keiner denkt daran, wie es bleibt", sagt sie. Dieser Gedanke hätte sie auch bewogen, den Verein zu gründen. "Ich habe für meine Dissertation im Nachlass einer Berliner Künstlerin geforscht. Das Problem war nur, dass der völlig ungeordnet war und verteilt auf verschiedene Dachböden der Republik." Wenn ein Künstler stirbt, seien die Angehörigen oft mit der Aufbewahrung und Aufbereitung des Erbes überfordert. Dabei ginge es nicht nur um Verkäufe, auch um den historischen Wert eines Nachlasses. So viel Wertvolles ginge verloren. "Unser Verein schließt diese Lücke jetzt. Aber natürlich können wir nur einigen, qualitativ sehr hochwertigen Nachlässen gerecht werden", sagt Jain. Natürlich würde man nie einen Picasso- oder Gerhard-Richter- oder Jörg-Immendorf-Nachlass bekommen, aber um die ginge es auch nicht. Eher um die Künstler, die schon in ihren letzten Lebensjahren in Vergessenheit geraten sind oder nicht mehr so viel Aufmerksamkeit erlangen konnten.

Ein anderes Gründungsmitglied ist der Hamburger Thomas Sello, er brachte den fotografischen Nachlass seiner Mutter Ingeborg Sello in den Verein und das Werk des Hamburger Malers Günther Baass. Inzwischen wurden auch aufgenommen Friedrich Ahlers-Hestermann, Alma del Banco, Arnold Fiedler und Alexandra Povòrina, sie gehörten der Hamburgischen Sezession an, einer Elitevereinigung von Künstlern in den Jahren von 1919 bis 1933. Die Auswahl treffen die sechs Vorstandsmitglieder des Vereins, Kunsthistoriker, aber auch einer wie Walter Kaufmann, ein Jurist. Er ist es auch, der die Verträge mit den Künstlern oder deren Angehörigen abschließt. Das Verfahren laufe immer ähnlich ab. Zuerst wenden sich die jeweils Betroffenen an den Verein. Schicken dann eine Mappe mit Informationen zu Leben und Ausstellungen. Und Fotos von den Arbeiten. Dann fährt einer der Kunstsachverständigen des Vereins hin und schaut sich die Arbeiten an. Anschließend wird wieder im Vorstandsgremium beraten. Dann erst legt Kaufmann den Vertrag vor. "Es ist klar", sagt Gora Jain, "dass wir nichts bezahlen können. Wir nehmen nur Schenkungen." Das sei für die Verwandten oft enttäuschend, aber es ginge beim Verein nur um künstlerischen Wert, nicht darum eine Galerie zu sein oder die Bilder später teuer weiterzuverkaufen. Obwohl auch schon mal ein Bild verkauft werde. Wenn es nicht in den übrigen Nachlass passe. Aber auch so ein Verkauf diene dazu, die Arbeit des Forums zu finanzieren. "Eigentlich brauchen wir eine feste Arbeitsstelle", sagt Gora Jain. Nach fünf Jahren werde erst jetzt ein Computer angeschafft. Ein Notebook, sodass Informationen schon vor Ort eingegeben werden können. Auf einem Tisch in den Vereinsräumen stehen bisher nur Ordner, in denen Daten, Verträge und Informationen zu den Künstlern abgeheftet sind. Gora Jain hofft auf einen reichen Schirmherren für den Verein. "Kann auch eine Frau sein", sagt sie.

Ein anderer Weg der Finanzierung ist zum Beispiel die Kooperation mit der Großkanzlei Latham&Watkins, die leihen sich für ein Jahr lang Bilder eines Künstlers des Forum aus und bezahlen dafür auch etwas. So wurde auch der Jurist Walter Kaufmann auf den Verein aufmerksam. Er selber habe sich schon immer für Kunst interessiert und sammle auch selbst. Jetzt ist er Vereinsmitglied. So eine Ausstellung bei Latham gibt den verstorbenen Künstlern posthum Öffentlichkeit.

"Und um die geht es schließlich", findet Heinz Schrand in seinem Volksdorfer Garten. Der Garten gleicht eher einem Skulpturenpark. Nackte aus Bronze, Stein und Holz stehen alle paar Meter zwischen den Bäumen. "Nackt ist zeitloser", sagt er und wartet lächelnd auf eine Antwort. Was mit seinen Skulpturen und farbigen, dramatischen Bildern nach seinem Tod passiert, weiß er noch nicht. "Ich hoffe, meine Frau und meine vier Kinder kümmern sich darum." Eigentlich ist er sich sicher.

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