SCHRIFT-STÜCKE: HAMBURGER AUTOREN SCHREIBEN EXKLUSIV IM JOURNAL

Meine Figuren und ich

| Lesedauer: 9 Minuten
Verena Rabe

John Smithfield begegnete mir beim Skifahren. Ich wedelte gerade einen Abhang hinunter und war froh, allein zu sein. Aber den attraktiven Mittzwanziger im Smoking, der an den Schultern etwas spannte, schien es überhaupt nicht zu interessieren, dass ich auf sein "Hi, wie gehts" nicht reagierte. Er erzählte mir, dass er Jazz und Swing liebe und gerne tanze. Er hatte dieses spöttische Blitzen in den Augen, ich mag Frauen, aber muss ich mich wirklich für eine entscheiden? Zuerst fiel ich auf seine scheinbare Leichtigkeit herein. Er sei aus Boston, erzählte er, aber er wäre auch mal in Deutschland gewesen, erst ein Jahr in Hamburg nach dem College Anfang der 30er und dann während der Olympiade 1936 in Berlin. Er hätte dort als Sportreporter gearbeitet. Er wurde traurig. Aber da raste ein Skiläufer so dicht an mir vorbei, dass ich erschrak und John Smithfield aus den Augen verlor.

Am selben Abend kam er wieder, dieses Mal begleiteten ihn eine Frau und ein Mann seines Alters: Der Musiker Chaim Steinberg hatte dunkle Augen und ebenso dunkles lockiges Haar. Er war größer, aber zierlicher als John Smithfield. Seine Schultern waren schmal, seine Haut blass, seine Hände und Finger fast schon zu feingliedrig für einen Mann. Die blonde Frau hieß Elisabeth Brandt und sang Swing in einer Berliner Bar. Sie trug ein blaues Paillettenkleid mit tiefem Ausschnitt, was besonders John Smithfield begeisterte. Sie hielt zwar Chaims Hand, aber schmiegte sich gleichzeitig an Johns Seite. Die drei erschienen in meinen Gedanken und waren so wirklich wie lebendige Menschen. Sie wollten, dass ich ihre Geschichte schreibe. Also begann ich zu recherchieren.

John Smithfield, Chaim Steinberg und Elisabeth Brandt wiesen mir in den nächsten drei Jahren den Weg durch meine Geschichte. Unsere Tochter fragte unsere Bostoner Tischnachbarn beim Portugiesen am Hafen, ob sie John Smithfield kannten, so lebendig waren meine Romanfiguren.

Nach einer Zeit benannte ich Chaim in Edgar um. Ab diesem Moment verwehrte er mir seine weitere Mitarbeit. Er wollte nicht mehr musizieren oder komponieren. Er saß in der Kneipe und spielte mit John Karten. Er wollte auch nichts mehr mit Elisabeth zu tun haben, die er doch eigentlich so liebte. Und er war kurz davor, sich mit John zu verbrüdern und mit ihm nach Amerika zu gehen. Wir lassen es nicht mehr zu, dass Elisabeth unsere Freund- schaft zerstört, lallten sie nach dem siebten Bier und fingen an, den Kellnerinnen begierige Blicke zuzuwerfen und sich darüber zu verständigen, ob sie die beiden später mit auf Johns Zimmer ins Hotel Adlon mitnehmen sollten.

Stopp, rief ich, so geht das nicht, das ist nicht mehr meine Geschichte, die will ich gar nicht erzählen. Aber Chaim, der nicht mehr Chaim heißen durfte, stellte sich taub und spielte weiter mit John verrückt, anstatt in seiner kleinen Dachwohnung am Flügel zu sitzen und traurige Liebeslieder zu komponieren.

Also gut, dann nenne ich dich eben wieder Chaim, gab ich nach, und schon änderte sich das Szenario, Chaim stellte fest, dass er Skat schon immer doof fand und lieber weiter komponieren wollte. Elisabeth stand wieder zwischen John und Chaim, obwohl sie sich schon fast entschieden hatte, die beiden in Ruhe zu lassen, weil sie sich so kindisch benahmen, als Chaim nicht Chaim, sondern Edgar geheißen hatte.

Manchmal sind meine Figuren so bockig, dass ihnen kein gutes Zureden hilft und sie in Ruhe gelassen werden wollen. Marie, eine Hauptfigur aus "Thereses Geheimnis", hatte eigentlich vor, am Ende der Geschichte nach London zu reisen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Alles schien auch gut zu gehen. Sie packte ihre Taschen in Hamburg und bestieg die Englandfähre an den Landungsbrücken - es war Anfang der 90er. Sie kam in Harwich an, aber anstatt den Zug nach London zu nehmen, blieb sie im Hafen auf einem Poller sitzen und weigerte sich, irgendetwas zu tun. Meine Drohungen, sie aus der Geschichte zu werfen, wenn sie nicht weiter mitspielen wolle, quittierte sie mit einem Grinsen, da sie wusste, dass sie eine entscheidende Hauptfigur war, auf die ich nicht verzichten konnte.

Ich war zuerst sauer und frustriert, aber als ich nach tagelangem Hadern mit meinem Autorinnenschicksal nicht weiterkam, beschloss ich, Marie auf dem Poller sitzen zu lassen und mit meiner Familie segeln zu gehen. Vielleicht würde es ja helfen, Marie einfach zu ignorieren.

Und wirklich: Nach einigen Wochen klopfte sie zaghaft bei mir an. Sie wolle doch jetzt nach London, sagte sie, und endlich ihre Geschichte zu Ende bringen. Großartig, dachte ich, und begann gleich zu schreiben, weil ich befürchtete, dass sie mir noch mal mit ihrem Starrsinn in die Quere kommen könnte.

Was Liebesszenen angeht, sind meine Figuren mit den Jahren glücklicherweise etwas lockerer geworden. Am Anfang benahmen sich speziell die Frauen, als ob sie gerade einem von Nonnen geführten Mädchenpensionat entsprungen wären. Sie waren so prüde, dass ich es gar nicht ertragen konnte, ihren kläglichen Versuchen, den fleischlichen Genüssen zu erliegen, beizuwohnen. Oder sie waren zu genant wie Elisabeth Brandt - mittlerweile nicht mehr Anfang 20, sondern Mitte 60, und John Smithfield - auch im Rentenalter. Die beiden hatten sich nach einem langen Leben ohneeinander wieder getroffen, waren verliebt und wollten dem auch körperlich Ausdruck geben. Das Ambiente war auch höchst romantisch. Sie saßen an einem lauschigen Sommerabend in Elisabeths Ente im Grunewald. John hatte seiner Angebeteten am Nachmittag eine silberne Kette mit einem Bernsteinanhänger geschenkt. Sie waren tief bewegt durch einen Liederabend, bei dem Chaim Steinbergs Liebeslieder, die er 1935 für Elisabeth geschrieben hatte, gesungen worden waren. Alles stimmte und war für den ersten Kuss und die längst fällige Liebeserklärung gerichtet. Aber sie saßen schweigend nebeneinander und taten nichts. Elisabeth zierte sich, weil sie nicht mehr die Jüngste war, und auch John hatte wohl Bedenken wegen seines nicht mehr ganz so durchtrainierten Körpers. Nachdem sie dann beschlossen, das letzte schmerzhafte Geheimnis um Chaims Selbstmord, das noch zwischen ihnen stand, zu lüften, nahm die Sache dann doch endlich Fahrt auf. Mittlerweile war es schon dunkel genug, dass Elisabeth keine Angst mehr davor zu haben brauchte, John würde sie nicht attraktiv finden. Und John machte sich auch keine Gedanken mehr darüber, ob er noch in der Lage sein würde, den feurigen Liebhaber zu geben.

Wenn ich von meinen Figuren Abschied nehmen muss, weil der Roman zu Ende geschrieben ist, fällt es mir schwer, sie gehen zu lassen. Die einen sind meine Geschwister in Geist und Gefühl. Aber auch die anderen sind mir während des Schreibens so vertraut geworden, dass ich sie verstehe und weiß, wie sie denken und empfinden, auch wenn sie mich am Anfang unserer Bekanntschaft etwas irritierten, wie beispielsweise Olaf in "Charlottes Rückkehr", über dessen Chaos und Bindungsunfähigkeit ich mich ärgerte, oder Marie, weil sie ihr Leben nicht in den Griff bekam.

Wenn sie sich dann verabschieden, langatmig, gutgelaunt kurz oder zerknirscht, je nach ihrem Charakter, bleibe ich zurück und betrachte die leere Stelle in meinem Kopf und in meinem Herzen, die sie hinterlassen haben. Ich werde unruhig und übel gelaunt, fange unnötige Aktionen an, wie zum Beispiel den Keller zu entrümpeln, oder zumindest davon zu reden, dass man den Keller endlich entrümpeln müsste. Glücklicherweise sind diese Phasen zwischen zwei Romanen nie sehr lang. Und irgendwann erwischt mich wieder ein Thema, das mich nicht mehr loslässt, ich fange an zu recherchieren und über das Thema nachzudenken, und bald danach kann ich sicher sein, dass die Figuren bei mir anklopfen, mir ihre Geschichte erzählen und möchten, dass ich über sie schreibe.

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