Berlin. Das „Entlassungsloch“: Auch Ex-Geiselnehmer Dieter Degowski wird nun in eine fremde Freiheit entlassen. Was kommt nach 30 Jahren Haft?

30 Jahre im Gefängnis, dann öffnet sich die Tür, und vor ihm liegt die Freiheit: Vielleicht ist Dieter Degowski schon hinausgetreten. Wann genau es so weit sein würde, behielt das Landgericht Arnsberg für sich, als es die Freilassung auf Bewährung am 10. Oktober ankündigte. Rummel vermeiden, wenn einer der bekanntesten Verbrecher Deutschlands rauskommt. Offiziell bekannt ist nur, dass Degowski sein Leben nach dem Gefängnis mit einem neuen Namen beginnt.

Natürlich ist er ein Sonderfall. „Eine absolute Ausnahme in der Kriminal- und Mediengeschichte“, sagt auch Kriminologe Bernd Maelicke. Generationen von Deutschen haben die Bilder des Gladbecker Geiseldramas noch vor Augen. Zwei Tage währte es, am Ende hatte Degowski im entführten Bus den 15-jährigen Emanuele De Giorgi ermordet. Die 18-jährige Silke Bischoff starb durch eine Kugel aus der Waffe des zweiten Täters Hans-Jürgen Rösner, ein Polizist verunglückte bei der Verfolgungsjagd tödlich. Ein Verbrechen vor den Augen der Öffentlichkeit – das Verhalten von Reportern vor Ort gilt bis heute als unrühmlich.

„Männerkultur mit Gewalt, Erpressung, Drogen“

Aber trotz dieses Sonderfalls: Degowski ist ein Strafgefangener, der entlassen wird, wie viele andere vor ihm. „Er ist in den vergangenen 30 Jahren sozialisiert worden für das Gefängnis und im Gefängnis“, sagt Maelicke, Autor des Buches „Das Knast-Dilemma“. Man lebe dort in einer totalen Institution, alles sei geregelt. Zudem herrsche „diese Männerkultur mit Gewalt, Erpressung, Drogen, die man irgendwie überleben muss.“ Draußen gelten andere Regeln. Die meisten Ex-Gefangenen fielen von der Entlassungseuphorie schnell in ein „Entlassungsloch“. „Es ist wirklich so, dass ein Mensch allein mit dem Pappkarton vor der Gefängnistür steht, und da ist der Dschungel, der auf ihn wartet.“

Manche Entlassene träfen ihren Bewährungshelfer erst nach einem Monat, weil der sich um 100 Menschen zugleich kümmern muss. „Wir sprechen vom ‚Drehtürvollzug‘ mit hohen Rückfallquoten in den ersten Wochen und Monaten“, so Maelicke.

Bei Degowski wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt

Fast 90 Prozent der rund 56.000 Strafgefangenen in Deutschland sitzen Strafen unter fünf Jahren ab. Rund 2000 sitzen lebenslänglich – was in Deutschland mindestens 15 Jahre bedeutet. Dann kann der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden. Für Degowski kommt diese Freiheit auf Bewährung nach fast 30 Jahren – bei ihm war wie bei seinem Mittäter eine besondere Schwere der Schuld festgestellt worden.

Degowski wurde im Gefängnis nicht wieder straffällig. Laut Behörden arbeitete er an sich und bereut seine Tat. „Ein normaler älterer Herr“, beschrieb ihn die Leiterin der JVA Werl, Maria Look, gerade erst. Sein Komplize Rösner sitzt weiter. Gerade erst wurde bekannt, dass er nun doch eine Therapie beginnt, nachdem er dies bislang immer abgelehnt hatte.

Ein Netz aus Kontrolle und Betreuung erwartet Degowski

Johannes Kamp, Sprecher des Landgerichts Arnsberg, erklärt, dass Degowski in ein „eng­es Netz aus Kontrolle und Betreuung“ entlassen wird. „Das Gericht hat sehr klare, engmaschige Vorgaben gemacht. Es sieht eine Anbindung an soziale Stellen vor, es gibt Weisungen und Auflagen, die zu einer Tagesstrukturierung beitragen.“ Er werde über einen Bewährungshelfer hinaus an weitere professionelle Anlaufstellen angebunden sein.

Vor seinem Verbrechen war der einstige Sonderschüler Gelegenheitsarbeiter und Sozialhilfeempfänger, jetzt hat er 30 Jahre Haft im Rücken. „Der muss irgendwo schlafen können, sein geregeltes Einkommen haben und tagsüber etwas tun“, sagt Maelicke. „Als Hilfskraft in einem Landgasthof beispielsweise.“ Sein Schwiegervater habe als Bewährungshelfer öfter Ex-Gefangene so untergebracht. Denkbar sei auch eine Einrichtung oder WG für Haftentlassene, etwa von der Caritas oder dem Diakonischen Werk.

Verurteilte RAF-Terroristen änderten ihren Namen

Ob der neue Name wirklich bei der Resozialisierung hilft? Es gibt keine Zahlen darüber, wie oft entlassene Häftlinge ihren Namen ändern. Viele Fälle sind nicht bekannt. Vera Brühne war einer. 1962 wurde sie wegen gemeinschaftlichen Doppelmordes an einem Münchner Arzt unter großem Medieninteresse verurteilt, nach ihrer Entlassung 1979 bis zu ihrem Tod 2001 lebte sie als Maria Adam. Auch einige verurteilte RAF-Terroristen, etwa Susanne Albrecht, begannen ihr Leben nach der Haft mit neuem Namen.

Nach diesen RAF-Terroristen wird noch gefahndet

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    Maelicke findet diesen Versuch des Neuanfangs im Fall Degowski „fast rührend“. Eine Namensänderung ist kein Identitätswechsel mit amtlich beglaubigter Fantasie-Biografie. Ein neuer Name beim Standesamt, mehr ist es nicht. Und dann geht er raus, die eigene Geschichte immer dabei, in eine veränderte Welt. Mauerfall, Wiedervereinigung, 11. September, Internet, Smartphones, IS-Terror: Das war alles noch nicht passiert, als Degowski zum Verbrecher wurde.