Berlin. Der Fall an sich war nicht spektakulär, und doch hat er vermutlich weitreichende Folgen. Ein Berliner Elternpaar hatte ein Tattoostudio verklagt, weil seine dreijährige Tochter beim Stechen von Löchern in die Ohrläppchen Schmerzen erlitten und noch Tage später traumatische Reaktionen gezeigt habe. Außerdem seien die Löcher nicht in der gleichen Höhe. Vor dem Amtsgericht Berlin-Lichtenberg einigten sich die Parteien am Freitag darauf, dass die Studio-Inhaberin dem Mädchen 70 Euro ins Sparschwein zahlt. Der Vorsitzende Richter Uwe Klett indes will den Fall nutzen, um grundsätzlich klären zu lassen, ob das Ohrstechen bei Minderjährigen womöglich den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt. Er werde die Causa "wahrscheinlich" der Staatsanwaltschaft übergeben.
Bereits mit dieser Ankündigung hat Klett eine bundesweite Debatte angestoßen - ähnlich wie vor Wochen das Kölner Landgericht, als es die nach jüdischem und islamischem Glauben übliche Beschneidung eines Jungen als Körperverletzung wertete. Der Bundestag arbeitet inzwischen an einem Gesetz, das eine medizinisch fachgerechte Beschneidung grundsätzlich zulässt. Und nun will sich das Parlament auch mit der Frage des Ohrlochstechens befassen. In der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause werde der Rechtsausschuss die Arbeit an einem Gesetzentwurf aufnehmen, kündigte der Ausschuss-Vorsitzende Siegfried Kauder (CDU) in der Berliner Zeitung "B.Z." an. "Der Gesetzgeber ist aufgerufen, klar zu definieren, was zulässig ist", sagte Kauder. Bislang gebe es in Deutschland keine eindeutige Regelung, wie alt Kinder sein müssen, damit Ohrlöcher gestochen werden dürfen. Er verwies auf ähnlich gelagerte Fälle bei Tätowierungen. Es sei in der Regel "nicht vom Erziehungsrecht gedeckt, wenn Eltern bei einem unter 14-jährigen Kind einem Tattoo zustimmen".
Der Staat dürfe erst bei einer Gefährdung des Kindeswohls eingreifen, so die Auffassung des Bundesjustizministeriums. Solange dies nicht der Fall sei, liege die Entscheidungsbefugnis bei den Eltern, sagte eine Ministeriumssprecherin. Ob sich ein Tätowierer oder Piercer strafbar macht, wenn er einem Jugendlichen ein Piercing sticht, hänge von der Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Jugendlichen ab. Im Einzelfall komme es darauf an, um welchen Eingriff es sich konkret handele. Die Europäische Vereinigung für professionelle Piercings (EAPP) lehnt Eingriffe bei unter 14-Jährigen ab. Bei älteren Jugendlichen ist das Einverständnis beider Eltern nötig. Diese müssen auch beim Vorgespräch anwesend sein.
Für den Vorsitzenden des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, gibt es im Berliner Fall um die Ohrlöcher keinen Zweifel: Es handele sich um einen Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes - selbst wenn dieses sich die Ohrlöcher gewünscht habe.
Und was sagen die Mediziner? Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) warnt grundsätzlich vor dem Stechen von Ohrlöchern bei Kindern. "Ohrlochstechen, Tätowierungen und Piercings bei Minderjährigen sind aus unserer Sicht Körperverletzung", sagte BVKJ-Präsident Wolfram Hartmann. "Jeder Eingriff in den intakten Körper eines Kindes ist problematisch."
Beim Stechen von Ohrlöchern könne es zu Entzündungen und Verletzungen kommen. "Die Ohrmuschel enthält relativ viel Knorpel, und dadurch entzündet sich das sehr heftig", sagte Kinderarzt Hartmann. Gerade für kleine Kinder sei die Gefahr sehr groß: "Kurz nach dem Stechen kann Schmutz in die Wunde kommen." Zudem könnten sich Kinder beim Spielen verletzen. Er regte an, das gesetzliche Mindestalter für das Ohrlochstechen auf 14 Jahre festzulegen.
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