Rom. Das Taxi nach München kam nicht weit. Schon nach wenigen Hundert Metern ließ sich der Fahrgast angeblich um fünf Uhr morgens am Bahnhof von Trient wieder absetzen, um von dort mit dem Zug heimzukommen. Denn zwischendurch muss er wohl festgestellt haben, dass das Geld nicht reicht. Den Zug hat er dann auch nicht genommen. Mittlerweile ist Gerd Müller, 65, Deutschlands größter Torjäger, wieder zu Hause. Seine Frau Uschi, mit der er seit 43 Jahren verheiratet ist, hat ihn abgeholt aus Norditalien. Das ist sicher und wird vom FC Bayern bestätigt, bei dem der "Bomber der Nation" als Co-Trainer der Regionalliga-Mannschaft fungiert, die in Italien im Trainingslager ist. "Gerd hatte Termine in München. Es geht ihm gut, alles prima", sagt Pressechef Markus Hörwick.
Es ist ein ebenso verzweifelter wie vergeblicher Versuch, die Bedenken zu zerstreuen, die italienische Pressemeldungen ausgelöst hatten und die von deutschen Medien aufgegriffen wurden. "Gerd Müller 13 Stunden verschwunden", "Spieler suchten ihn im Wald"; "desorientiert und verwirrt" sei er gewesen, als ihn zwei Polizisten am Montag schließlich gefunden hätten. Polizisten, die nach einer Version die Hotelangestellten, nach einer anderen der FC Bayern selbst alarmiert hatte. Weil Müller zum vereinbarten Treffen mit Trainer Andries Jonker nicht erschienen sei. Die Bayern-Version liest sich so: "Gerd Müller ist vom Hotel aus ein wenig spazieren gegangen und hat sich dann im Ort verlaufen. Er war aber nur ein paar Stunden unterwegs. Das Problem war, dass die Mannschaft zuvor das Hotel gewechselt hatte."
Sie haben allen Grund, ihn zu schützen. Seit 20 Jahren tun sie das beim FC Bayern - und alle Welt findet es richtig. Wenn es einer verdient hat, dann ja wohl er. "Vielleicht wären wir ohne Gerd Müller und seine Tore noch immer in unserer alten Holzhütte an der Säbener Straße", sagt Franz Beckenbauer. Auch die Karriere des "Kaisers" wäre um einiges glanzloser verlaufen ohne seinen Doppelpasspartner, dessen Tore die Bayern zur Weltmarke und Deutschland zum Welt- und Europameister machten.
Das Schlimme ist nur, dass der 1979 im Zorn über eine Auswechslung nach Florida ausgewanderte Müller nach seinem letzten Spiel für die Orlando Smith Brothers in Fort Lauderdale keinen besseren Platz mehr im Leben fand. Keinen, der ihn ausfüllte. Nach drei Jahren in den USA kehrte er in sein geliebtes München zurück und stand vor dem Nichts. Er hatte nicht das Zeug zum autoritären Trainer, cleveren Manager oder TV-Experten. "Du bist kein Mann der großen Worte. Du hast die Tore geschossen, ohne viel zu reden", charakterisierte ihn 2003 Beckenbauer in seiner Laudatio, als sie ihn zum wertvollsten Bundesligaspieler aller Zeiten kürten.
"Nur nichts tun. Den ganzen Tag einfach nur rumsitzen und nichts Sinnvolles machen - das war das Verderben", räsonierte Müller selbst über seine Flucht in den Alkohol. Bei Prominentenspielen, erzürnte sich sein Weggefährte Uli Hoeneß, hätten sie ihn abgefüllt und sich dann über ihn lustig gemacht. Der Held einer Generation nur noch eine Witzfigur - das konnten die Bayern nicht mit ansehen.
Im September 1991 wurden Müllers Probleme öffentlich, weil er angetrunken als Kiebitz beim Bayern-Training angetroffen worden war, weil die Frau sich scheiden lassen wollte und weil auch noch die Steuerfahnder ihre unbarmherzige Pflicht taten und zwei Eigentumswohnungen pfändeten. Da reichten die Bayern ihm die Hand. Es war bitter nötig, er war ganz unten. "Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Du bist oben, schwebst im Himmel. Und fällst und fällst. Plötzlich bist du in der Hölle", sagte Müller in einem Interview. "Ich habe sehr gelitten, und ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft."
Seine Freunde überredeten ihn, eine Entziehungskur zu machen, auch psychiatrische Hilfe nahm er in Anspruch. Und seine Frau überlegte sich das noch mal mit der Scheidung. Die größte Hilfe aber war der wohl am schlechtesten bezahlte Vertrag, den ihm der FC Bayern je gegeben hat: Seit 1992 ist er wieder angestellt bei dem Klub. "Ich bin vollkommen glücklich, und ich bin beschäftigt", sagte er 1993, als er die A-Jugend trainieren durfte. Er war auch schon Sponsorenbetreuer, Talentsucher, Stürmer- und Torwarttrainer, Co-Trainer bei den Profis und zuletzt bei den Amateuren. Für Gerd Müller haben sie immer eine Stelle frei beim Rekordmeister - "und zwar solange er will". Das Versprechen hat ihm "der Uli", der jetzt sein Präsident ist, zum 65. Geburtstag erst im Herbst gegeben.
Gerd Müller fährt schon seit Längerem kein Auto mehr
Lange Zeit ging die Gratwanderung gut, auch privat. Frau Uschi sagte: "Der Gerd ist für die Familie da und wir für ihn. Und er hat sein Tennis und seine Sauna. Er hat seinen Fußball bei den Bayern-Amateuren."
Die Nachrichten aus Norditalien treffen die breite Öffentlichkeit unerwartet, einige wenige Eingeweihte nicht. Dass es Gerd Müller nicht mehr gut geht, ist ein offenes Geheimnis. Schon länger fährt er kein Auto mehr. Und bei seinen aus gutem Grund immer selteneren öffentlichen Auftritten wurde offenbar, dass etwas nicht stimmt. Zu dem Werbespot mit Müllermilch, den er mit seinem jungen Namensvetter Thomas Müller vom FC Bayern drehte, gab ihm der Verein einen Betreuer mit. Dabei musste er nur einen Satz sagen, aber sogar davor hatte er Angst.
Es ist der Kopf - und es ist seine Privatsache. Jedenfalls sehen das die Bayern so, und sie versuchen ihn zu schützen, so gut sie können. Und so gibt der Mann, der auf dem Fußballplatz seinen Gegenspielern 15 Jahre lang Rätsel aufgab, nun wieder welche auf. Ob er seine Probleme lösen kann, weiß niemand. Dass er dabei nicht allein sein wird, das weiß man schon.
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