Nischni Nowgorod. Das Viertelfinale am Freitag gegen Frankreich verdankt Uruguay dem 71-Jährigen Oscar Tabárez. Er ist der älteste Trainer des Turniers.

Die Sonne kommt zwischen den Wolken durch, als Oscar Washington Tabárez den Weg zum Trainingsplatz zurücklegt, der für ihn ein sehr beschwerlicher ist. Wegen einer Nervenkrankheit muss sich der Trainer mit einer Krücke fortbewegen.

Schritt für Schritt müht er sich von Uruguays schlichtem Sporthotel in Nischni Nowgorod zum Rasen. Während seine Spieler mit Doppelpass- und Dribbelübungen beginnen, setzt er sich auf die Bank. Er lehnt die Gehhilfe an und zieht seine Trainingsjacke aus. Das Geschehen verfolgt er mit fiebriger Neugier. An Beweglichkeit mag Tabárez eingebüßt haben. Seine Leidenschaft ist ungebrochen.

Mit 71 Jahren ist der „Maestro“ der älteste Trainer des Turniers. Und sicher einer der weisesten. Deshalb hat er es auch schon vorher geahnt. Die WM 2018, erklärte er vor einem halben Jahr, werde „eine der Überraschungen, in der die Vorgeschichten nicht zählen“. Und während man sich darüber in manchen Ländern immer noch die Augen reibt, bereitet er sein kleines Uruguay auf das WM-Viertelfinale heute (16 Uhr/ZDF) gegen Frankreich vor. „Wir sind unseren Zielen so nah wie nie zuvor.“

Maestro – Lehrer – wird er genannt, weil er bereits während seiner Verteidigerkarriere nebenher als Grundschullehrer arbeitete. Und weil er auch später immer Pädagoge blieb, ob als Vereins- und Nationaltrainer in Uruguay wie in den 80er-Jahren, bei Klubs wie Boca Juniors oder AC Mailand in den 90ern oder seither wieder beim Verband. Zunächst als Nachwuchskoordinator, seit 2006 erneut als Nationaltrainer, mittlerweile als beides, mit einem WM-Halbfinale 2010 und einer Südamerika-Meisterschaft 2011 als Höhepunkte. Tabárez ist der Kümmerer des uruguayischen Fußballs.

Eine Vater-, ja Großvaterfigur, die ihre Schäfchen bis zum Äußersten verteidigt. 2014 trat er aus Protest gegen die Strafe für den Biss von Luis Suárez von seinen Fifa-Ämtern zurück. Damals hielt er in Rio de Janeiros Maracanã-Stadion eine 20-minütige Rede.

„Mir kommt die Sündenbocktheorie in den Kopf: ein Exempel zu statuieren, damit das Kollektiv weiß, was gut und was schlecht ist“, formulierte er. „Aber es gibt eine Gefahr: Man vergisst, dass der Sündenbock eine menschliche Person ist, die Rechte hat.“

Weltstars lauschen andächtig

Der Maestro ist die Sorte Lehrer, denen man zuhört. Bei Pressekonferenzen, seinen WM-Audienzen, ist der Saal in der Regel restlos gefüllt, wenn er mit sonorer Stimme und rhetorischen Kunstpausen solche Sätze sagt: „Der Fußball ist nicht das Wichtigste, aber er ist ein Vehikel, um zu den wichtigsten Dingen vorzustoßen.“ Dann lauschen auch Weltstars wie Luis Suárez oder Edinson Cavani andächtig einem Trainer, der durch seine Krankheit noch mehr zur Inspiration geworden ist, der kein Mitleid will und in Interviews Mutter Teresa zitiert: „Mach’ weiter, auch wenn alle darauf warten, dass du aufgibst... Wenn du wegen des Alters nicht mehr rennen kannst, trabe. Wenn du nicht mehr traben kannst, gehe. Wenn du nicht mehr gehen kannst, benutze den Stock. Aber bleib’ nie stehen.“

Trainer der „Celeste“ – der Himmelblauen – zu sein, ist kein einfacher Job. Das Land mag nur gut drei Millionen Einwohner haben, aber für Uruguay ist Dabeisein nicht alles. Uruguay ist zweimaliger Weltmeister. Auf dem Trikot trägt es sogar vier Sterne, weil Olympia 1924 und 1928 von der Fifa als Weltmeistertitel geführt wurden. Dazu 15 Südamerika-Meisterschaften, Rekord. Die Angst, der großen Geschichte nicht zu genügen, begleitet jedes Team.

Als Tabárez 2006 zurückgerufen wurde, war das Gefühl jedoch verblasst. Der Maestro brachte eine Radikalreform auf den Weg und sorgte unter anderem dafür, dass die Vereine ihre Jugendspieler dreimal die Woche zum Training im nationalen Leistungszentrum abstellen. „Der Weg ist die Belohnung“ lautet einer seiner Weisheiten.

Am Freitag soll dieser Weg wieder so weit führen wie 2010.