Moskau. Nach einer Serie von Niederlagen beim Elfmeterschießen besiegt England in der Lottorie Kolumbien. Trainer Gareth Southgate hat Erfolg.

Spätnachts, als es über Moskau fast schon wieder zu dämmern begann und Gareth Southgate seinen Rollkoffer im Teambus verstaut hatte, da musste er allmählich begreifen, was er und seine Mannschaft da angerichtet hatten. Ein, nun ja, sehr englischer Fan – nackter Oberkörper, schwabbelnder Bauch, Hosenträger darüber, volltätowiert, Glatze – winkte ihn für ein Foto heran. Selbst dieser Kerl strahlte nach einem historischen Abend so rein wie ein frischgebadetes Kind. Es war unmöglich, ihm seinen Wunsch abzuschlagen, und so standen sie dann nebeneinander, der Fan und der elegante Nationaltrainer Southgate, der es mit seinen Dreiteilern zu Hause mittlerweile zur Stilikone bringt. Das alte und das neue England.

Jahrzehntelang wurde getuschelt

Denn so tritt Southgate ja auf, als Reformer. Der Veteranen wie Wayne Rooney oder Torwart Joe Hart abservierte und einen geduldigeren, ballbesitzorientierten Spielstil predigt. Der dafür eine weitgehend unbelastete Generation zur Verfügung hat – die jedoch in diesem WM-Achtelfinale am späten Dienstagabend gegen Kolumbien plötzlich Gefahr lief, bei erster Gelegenheit zur nächsten traumatisierten Generation zu werden. Als sie in der Nachspielzeit den Ausgleich kassierte und in der Verlängerung kein Tor schaffte, da blickte sie den Dämonen der unrühmlichen Vergangenheit ins Auge. Da musste sie nach fünf verlorenen Serien in Folge für England ein Elfmeterschießen gewinnen.

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Und weil der Fußball letztlich eine einzige große Erzählung ist, weil er in seine Dramen so gern Querverweise einbaut, weil er denen, die nicht an ihm verzweifeln, immer die Erlösung anbietet, irgendwann, eines Tages – deshalb stand Southgate an der Seitenlinie und feierte am Ende den 5:4-Erfolg. Der Mann, der gleichzeitig viel altes England war. Sehr viel. Der in einem der Dramen eine Hauptrolle spielte. 1996, als er im Halbfinale der Heim-EM gegen Deutschland den sechsten Elfmeter vergab. Über den die Leute noch Jahrzehnte später tuschelten, wie er in seiner Autobiographie schrieb: „Das ist doch der Typ, der den Elfmeter verschossen hat...“

Ein guter Sinn für Ironie

Vielleicht haben die Russen einen genauso guten Sinn für Ironie wie die Engländer. Mindestens aber einen für Dramaturgie. Als die reguläre Spielzeit im Moskauer Spartakstadion abgepfiffen war, lief aus den Boxen die erste Strophe eines zwei Jahre nach der Heim-EM veröffentlichten Remakes des Turnier-Gassenhauers „Football’s coming home“. Sie beginnt: „Tears for heroes dressed in grey“ – „Tränen für Helden in grau.“ Tränen wegen Southgate. Die Dämonen, ganz nah.

Zur Verarbeitung seines Traumas, das zugleich das seiner Nation war, flüchtete Southgate in eine Mischung aus Wissenschaft und Populärpsychologie. Er hatte jeden Spieler individuellem Elfmetertraining unterzogen, die Liturgie vom Punkt einstudieren lassen. Er versuchte, das Elfmeterschießen von Emotionen und Überhöhungen zu befreien, es zu technisieren. „Es hat nichts mit Lotterie oder Zufall zu tun“, beharrte er, alles mit Planung. In seiner Sprache schossen die Spieler nicht Elfmeter, sie „führten die Technik aus“.

Anerkennung in der Heimat

Wie bei jeder Therapie zählt in erster Linie, dass der Patient an sie glaubt. Fehlschütze Henderson wurde fast noch am emotionalsten: „Ich bin einfach nur erleichtert, dass wir über die Ziellinie gekommen sind.“ Er kann seinen Trainer fragen, wie man sich sonst an ihn erinnert hätte. Der fatalste Fehlschütze hat „England über den Fußball hinaus eine Lektion erteilt“, so der „Guardian“. „Jetzt wollen wir daraus Kapital schlagen“, sagt Southgate. Am Samstag geht es im Viertelfinale gegen Schweden (16 Uhr/ARD).