Der Hamburger Eric Johannesen krönt sich mit dem Deutschland-Achter zum Olympiasieger. Das Protokoll eines goldenen Tages.

Dorney. Das Rennen ist seit 42 Minuten Geschichte, als Eric Johannesens Kraft noch einmal gebraucht wird. Gemeinsam mit den anderen Besatzungsmitgliedern des Deutschland-Achters macht sich der Ruderer des RC Bergedorf auf dem Siegerehrungssteg an Steuermann Martin Sauer zu schaffen. Sauer macht keine Anstalten zu verhindern, was nicht zu verhindern ist. Ein, zwei Ausholschwünge, dann taucht er nach einem kurzen Flug im Dorney Lake ab. Die Goldmedaille hatte er vorsorglich einem Teamkollegen zur Verwahrung gegeben.

Johannesen, Hamburgs erster Olympiasieger dieser Spiele, wird seine so schnell nicht abnehmen. Er hat Jahre dafür gearbeitet, Tag für Tag, Woche für Woche. Jetzt ist er am Ziel eines Traums, der vor acht Jahren begann, als er im Fernsehen die olympische Regatta von Athen verfolgte und sich sagte: Dorthin will ich auch einmal. Das Protokoll eines nicht nur für ihn unvergesslichen Tages.

5.45 Uhr: Im Quartier des Deutschland-Achters gehen die Lichter an. Die Mannschaft bewohnt ein Vierzimmerapartment im Athletendorf auf dem Campus von Royal Holloway, einem College der Universität London in Egham. Eine halbe Stunde später trifft sie im Frühstücksraum ein.

7.00 Uhr: Noch dreieinhalb Stunden bis zum Rennen. Ein Bus bringt die Mannschaft zur Regattastrecke des Eton College Rowing Club. Die neun Meilen lange Fahrt dauert rund 40 Minuten. Dann steigt Johannesen mit Filip Adamski, Andreas Kuffner, Maximilian Reinelt, Richard Schmidt, Lukas Müller, Florian Mennigen, Schlagmann Kristof Wilke und Sauer ins Boot. Vier Kilometer Einfahren stehen auf dem Programm.

9.00 Uhr: Zweites Frühstück. Danach ziehen sich die Athleten in eine Zeltanlage zurück. Ausruhen, konzentrieren, Kräfte sammeln. "Diese Zeit war die schlimmste heute, unheimlich anstrengend für den Kopf", wird Johannesen sagen, "andere Bootsklassen sind schon auf dem Wasser, man selbst muss noch warten."

11.10 Uhr: Wie immer trifft sich die Mannschaft 80 Minuten vor dem Rennen zur taktischen Besprechung mit Bundestrainer Ralf Holtmeyer. Danach geht es zum Warmlaufen, die Ruderer ziehen ihre Rennkleidung an.

11.50 Uhr: Noch 40 Minuten, es geht los. Zum zweiten Mal an diesem Morgen steigt die Mannschaft in den Achter und nimmt Kurs auf die Aufwärmbahn. Sie begegnet vielen Booten, die ihr Rennen bereits beendet haben.

12.27 Uhr: Am Anleger geht die Siegerzeremonie für den Zweier ohne Steuerfrau zu Ende. Die Briten feiern ihre ersten Olympiasiegerinnen dieser Spiele, Helen Glover und Heather Stanning. 2000 Meter nordwestlich haben die Achter Aufstellung genommen. Der deutsche geht von Bahn 4 ins Rennen.

+++ Johannesens Klubchef: "Wir haben immer an Eric geglaubt" +++

12.30 Uhr: Das Startsignal. Deutschland geht sofort in Führung, genau wie Holtmeyer es geplant hatte. Nach 500 Metern beträgt der Vorsprung auf Großbritannien drei Zehntel, zur Hälfte des Rennens vier. Aber die Mannschaft kann sich nicht entscheidend absetzen. Steuermann Sauer sagt mehr Spurts an als erwartet. Der Gegenwind hat die Taktik über den Haufen geworfen. Nervosität greift um sich.

12.34 Uhr: Plötzlich blendet der Monitor Großbritannien als "Leader" ein. Müller denkt: "Scheiße, die machen das!" Sauer schreit, aber keiner kann ihn mehr hören, weil er nur einer von 25 000 Menschen ist, die auch schreien. Der Dorney Lake ist jetzt ein Stadion, die Tribünen zittern. 250 Meter vor dem Ziel lösen rote Bojen die gelben ab. Die Mannschaften sind am Anschlag. Die deutsche scheint noch Reserven zu haben. Holtmeyer wusste das: "An dieser Flexibilität hatten wir verstärkt gearbeitet."

12.35 Uhr: Den Briten geht die Kraft aus. Kanada kommt auf, kann den Deutschland-Achter aber nicht mehr abfangen. Nach 5:48,75 Minuten löst er als Erster die Zielsirene aus, gefolgt von Kanada (5:49,98), der Gastgeber rettet Platz drei ins Ziel (5:51,18).

12.36 Uhr: Die Kanadier schreien vor Freude. In die der Deutschen scheint sich die Erleichterung zu mischen. Seit dem letzten Platz von Peking 2008 waren sie in 35 Rennen ungeschlagen, dreimal hintereinander Weltmeister. "Hätten wir dieses eine verloren, wäre alles andere in Vergessenheit geraten", sagt Johannesen. Er hebt als Erster die Arme, dann lässt er sich rückwärts in den Schoß seines Zweierpartners Kuffner sinken. Wilke steht auf und wirft sich in Siegerpose.

+++ Kommentar: Diese Leistung verdient mehr +++

12.40 Uhr: Das Boot legt an. Einige haben Tränen der Rührung in den Augen. Alle steigen aus, auch Mennigen. Er taumelt vor Erschöpfung und muss von seinen Teamkollegen gestützt werden. Für den 30 Jahre alten Ratzeburger und Adamski, 29, war es voraussichtlich das letzte Rennen ihrer Karriere. Johannesen, 24, und die meisten anderen wollen auch die Spiele 2016 in Angriff nehmen.

12.47 Uhr: Holtmeyer tritt vor die Mikrofone. Ob diese Mannschaft besser sei als die, die er 1988 zu Gold führte? Der Bundestrainer windet sich. Sie sei jedenfalls die ausgeglichenste. Ihm sei nur bewusst geworden, wie lange dieser Erfolg schon her sei.

13.10 Uhr: Siegerehrung. Eric Johannesen wird aufgerufen. IOC-Vizepräsident Thomas Bach hängt ihm die Goldmedaille um. Bei der Hymne erheben sich auf der anderen Uferseite auch die deutschen Frauen in ihrem Doppelvierer, die zuvor Silber gewonnen hatten.

13.56 Uhr: Endlich kann Johannesen seinen Liebsten in die Arme fallen. Er küsst seine Freundin Kaja Brecht, Mutter Doris und Vater Thomas. Auf ihren T-Shirts steht "Go for Gold!". Nur Bruder Torben kann nicht dabei sein, er bereitet sich auf die U19-Weltmeisterschaft vor. Das Protokoll duldet keinen Aufschub, Johannesen wird zur Pressekonferenz geführt. Er nimmt in der Mitte des Podiums Platz. Ein englischer Journalist fragt, was dieser Olympiasieg im Achter bedeutet, 24 Jahre nach dem bisher letzten. Johannesen überlegt, sagt: "Es ist unglaublich." Dann gehen ihm die Worte aus.

15.20 Uhr: Die Mannschaft verlässt die Stätte ihres Triumphs und fährt zum Empfang ihres Hauptsponsors Wilo. Später geht es weiter ins olympische Dorf.

20.01 Uhr: Das Team des Deutschland-Achters trifft im ZDF-Olympiastudio ein. Moderator Michael Steinbrecher stellt allen Teammitgliedern Fragen. Am Abend wird die gesamte Mannschaft noch im Deutschen Haus erwartet. Für Eric Johannesen ist es der erste Abend seit Jahren, an dem es keine Rolle spielt, wann er zu Ende geht.

In der Mittwoch-Ausgabe ist der Start des olympischen Achterfinales aufgrund einer Fehlinformation auf der Olympia-Homepage für 11.30 Uhr MESZ angekündigt worden. Richtig wäre 13.30 Uhr gewesen, wie es im Abendblatt-Terminplan vom 27. Juli stand. Um 11.30 Uhr startete lediglich das B-Finale. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.