Als erster deutscher Ex-Fußball-Nationalspieler macht Thomas Hitzlsperger seine Homosexualität öffenlich. Die Reaktionen sind ermutigend. „Es war ein guter Moment für mein Outing“, sagt der 31-Jährige.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Lawine ins Rollen kam. Und sie kam mit so viel Wucht, dass sie andere wichtige Themen am Mittwochmittag in den Hintergrund drückte. „Mutig – und richtig. Respekt, Thomas Hitzlsperger! Ein wichtiges Zeichen in der heutigen Zeit“, schrieb Lukas Podolski, der deutsche Fußball-Nationalspieler, via Twitter. Es war eine der ersten Reaktionen auf das Coming-out von Thomas Hitzlsperger, seinem ehemaligen Mitspieler in der Auswahl des Deutschen Fußball-Bunds (DFB).

Als erster ehemaliger deutscher Nationalspieler und Fußballprofi hat sich Hitzlsperger zu seiner Homosexualität bekannt und damit völlig überraschend ein Tabu gebrochen. „Erst in den letzten Jahren dämmerte es mir, dass ich lieber mit einem Mann zusammenleben möchte“, sagte der 31-Jährige in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Donnerstag-Ausgabe). Nachdem der 52-malige Nationalspieler vor vier Monaten seine Karriere beendet hatte, sah er nun „einen guten Moment“ für sein Outing. „Ich äußere mich zu meiner Homosexualität, weil ich die Diskussion über Homosexualität unter Profisportlern voranbringen möchte. Die Olympischen Spiele von Sotschi stehen bevor, und ich denke, es braucht kritische Stimmen gegen die Kampagnen mehrerer Regierungen gegen Homosexuelle“, sagte der frühere Mittelfeldspieler und gebürtige Münchner. Eine Outing- Drohung habe es nicht gegeben.

Hitzlsperger hatte sich Anfang September bereits mit sehr kritischen Worten aus dem Fußballgeschäft verabschiedet. „Wirtschaftlich überdreht ist die Branche schon seit Langem, und diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen“, hatte er in der „Süddeutschen Zeitung“ erklärt. Er stelle sich die Frage, „ob irgendwann mal die Ernüchterung eintritt und ans Tageslicht kommt, was sich hinter diesem Boom alles abgespielt hat“.

Server von „Zeit“-Online bricht zusammen

Die Resonanz war so gewaltig, dass am Mittwoch kurzzeitig der Server von „Zeit Online“ zusammenbrach. Die Geschichte von Thomas Hitzlsperger dominierte innerhalb kürzester Zeit sämtliche Social-Media-Kanäle. Denn sie betrifft eine Branche, in der es seit Jahren Gerüchte über schwule Fußballer gibt. In der aber auch seit Jahren kein Thema so tabuisiert wird wie jenes. In Kultur, in Wirtschaft und Politik ist die sexuelle Orientierung kein Verschweigethema mehr – im Fußball hingegen schon.

Obwohl der DFB und einige Vereine der Diskriminierung von Schwulen und Lesben den Kampf angesagt haben und es seit Sommer 2013 sogar einen Leitfaden gegen Homophobie im Fußball gibt, fällt es Betroffenen schwer, über ihre Gefühle zu sprechen. Es schwebt die Angst vor Repressionen mit. Die Angst vor Anfeindungen in den Stadien, in denen es während der 90 Minuten bei einer oftmals aufgeheizten Stimmung keine Toleranz gibt. Da werden Spieler und Schiedsrichter zum Teil aufs Übelste beschimpft – und auch schon mal als „schwule Sau“ tituliert.

Das Bewusstsein dafür zu erlangen, homosexuell zu sein, sei „ein langwieriger und schwieriger Prozess“ gewesen, sagte Hitzlsperger in dem Interview. 2007 trennte er sich kurz vor der Hochzeit von seiner langjährigen Freundin. Homosexualität werde im Fußball „schlicht ignoriert“. Bis heute kenne er keinen Fußballspieler persönlich, der andere damit konfrontiert habe: „In England, Deutschland oder Italien ist Homosexualität kein ernsthaftes Thema, nicht in der Kabine jedenfalls.“ In den genannten drei Ländern war der frühere Nationalspieler aktiv. Sein größter sportlicher Erfolg auf Clubebene bleibt die deutsche Meisterschaft mit dem VfB Stuttgart 2007.

Er habe sich immer wieder über die Widersprüche geärgert, die in der Fußballwelt im Umgang mit Homosexualität aufgebaut würden, sagte der frühere Mittelfeldspieler, der 2006 zum WM-Kader gehört hatte und 2008 Vizeeuropameister wurde, in dem Interview. Der Profisport sei ein absolut harter Leistungssport, „Kampf, Leidenschaft und Siegeswille sind untrennbar miteinander verknüpft“. Das passe nicht zu dem Klischee, das sich viele Leute von einem Homosexuellen machten, nämlich: „Schwule sind Weicheier.“

Er habe sich aber „nie dafür geschämt, dass ich nun mal so bin“. Trotzdem seien die Sprüche der Kollegen nicht immer einfach zu ertragen gewesen. „Überlegen Sie doch mal“, sagte Hitzlsperger: „Da sitzen 20 junge Männer an den Tischen und trinken. Da lässt man die Mehrheit gewähren, solange die Witze halbwegs witzig sind und das Gequatsche über Homosexuelle nicht massiv beleidigend wird.“

Hitzlsperger passte nie in Klischee

Hitzlsperger hat dabei noch nie in das Klischee des typischen Profifußballers gepasst. Er ist bekannt für sein soziales Engagement und galt während seiner aktiven Zeit fast schon als Intellektueller. So trat der Linksfuß beim Projekt „kicken & lesen“ der Baden-Württemberg-Stiftung auf, das die Lesekompetenz von Jungs aus bildungsfernen Familien stärken will. In Stuttgart war der auf dem Platz robuste, aber im Gespräch stets höfliche Hitzlsperger dafür bekannt, neben Büchern regelmäßig „Die Zeit“ zu lesen, was in der Fußballszene eher ungewöhnlich ist.

Die Verantwortlichen der Nationalmannschaft hätten „keine Kenntnisse von seiner Homosexualität gehabt, als Thomas noch aktiver Nationalspieler war“, sagte Teammanager Oliver Bierhoff am Mittwoch. Hitzlsperger habe sich „erst nach seinem Karriereende an uns gewandt. Dass er sich nun auch öffentlich bekennt, verdient Anerkennung und Respekt. Ich begrüße diesen Schritt, wir werden ihm alle Unterstützung zukommen lassen, damit er seinen mutigen Weg weitergehen kann.“

Auch in der deutschen Politik fand Hitzlspergers Outing großen Anklang. Bundestagsvizepräsidenten Claudia Roth sprach gegenüber der „Welt“ von einer mutigen und großartigen Sache: „Mensch, endlich! Er traut sich, zu sich selbst zu stehen. Es ist besonders bemerkenswert, wie er das Klischee vom Fußballer, der angeblich nicht schwul sein kann, aushebelt.“

Doch so respektvoll und positiv die Reaktionen auf Hitzlspergers Outing am Mittwoch auch waren, festzuhalten bleibt, dass auch er damit bis nach dem Karriereende gewartet hat. Im September 2012 hatte er gegenüber „Zeit Online“ gesagt, dass die Debatte um den ersten deutschen Fußballer, der sich outet, auch in den Umkleidekabinen ein heißes Thema sei: „Da kursieren verschiedene Namen und die ewige Frage: Wer mit wem?“ Er glaube, ergänzte Hitzlsperger damals, der erste offen homosexuell lebende Profi könne zum Vorbild werden. Doch er müsse sich auch auf Anfeindungen gefasst machen.

Die braucht er nun nicht mehr zu befürchten. Ganz im Gegenteil: Das Echo auf seine offenen Worte ist durchweg positiv. Nicht wenige sehen darin eine mögliche Initialzündung für den Profifußball. So auch Marcus Urban. Der frühere Fußballprofi, der unter anderem bei Rot-Weiss Erfurt unter Vertrag stand, hatte sich im November 2007 als erster ehemaliger Fußballspieler geoutet und offen über seine Homosexualität gesprochen. Er sagte am Mittwoch der „Welt“: „Ich war sprachlos, als ich das von Thomas Hitzlsperger gelesen habe. Ich denke, dass das eine Kettenreaktion auslösen wird. Dieses Outing inspiriert andere Fußballer und Fußballerinnen.“

Frauen haben weniger Probleme

Männliche Sportler aus anderen Ländern hatten sich schon früher geoutet. Der britische Turmsprung-Star Tom Daley enthüllte im Internet seine Liebe zu einem Mann. Im internationalen Fußball bekannte sich zuletzt der ehemalige US-Nationalspieler Robbie Rogers zu seiner Homosexualität. In England war Justin Fashanu der prominenteste Fall. 1998 erhängte er sich in einer Garage, nachdem ihm vorgeworfen worden war, einen 17 Jahre alten Jungen vergewaltigt zu haben.

Frauen im Profisport haben dagegen mit dem Outing offensichtlich weniger Probleme. Torhüterin Nadine Angerer etwa hat sich ebenso bekannt wie die ehemalige Teamkollegin Steffi Jones, jetzt DFB-Direktorin für den Frauenfußball.

Die kommenden Tage und Wochen werden nun zeigen, wie die Reaktionen auf das Outing Hitzlspergers ausfallen. Er hat mit seinem Bekenntnis auf jeden Fall ein Zeichen gesetzt. Und eine Branche zum Nachdenken angeregt, in der es hoffentlich bald kein Tabu mehr ist, sich öffentlich zu seiner Homosexualität zu bekennen.