Essen . Joachim Deckarm galt als bester Handballer der Welt – bis er vor 40 Jahren schwer verunglückte. Heiner Brand erinnert sich an den Schockmoment.

Dieser Tag im Januar 2019 war ein besonderer. Halbzeitpause im WM-Spiel zwischen Deutschland und Island. 19.000 Zuschauer waren nach Köln gekommen, um die deutschen Handballer zu sehen. Die der Gegenwart – und die der Vergangenheit. Lauter Applaus erfüllte die Arena, als die Weltmeistermannschaft von 1978 aufs Feld trat. Heiner Brand, Manfred Freisler, Horst Spengler und Kurt Klühspies winkten. Gerd Rosendahl schob einen Rollstuhl vor sich her, darin saß ein lächelnder Joachim Deckarm. Er ließ seinen Blick über die Tribünen schweifen, hob die Arme und klatschte mit. Deckarm war an diesem Tag 65 Jahre alt geworden, das Publikum sang lautstark „Happy Birthday“.

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Jahrzehntelang hatte der Mann mit dem grau melierten Haar da schon nicht mehr auf einem Handballfeld gestanden. Und doch feierten ihn die Zuschauer. Eine Ehrerbietung. Ein Zeichen, dass einer der besten Sportler Deutschlands nicht vergessen ist. Auch nicht 40 Jahre nach dem tragischen Unfall, der ihn zum Pflegefall machte. Deckarm schossen Tränen der Rührung in die Augen. „Das war ein besonderer Moment für ihn“, sagt Heiner Brand.

Der beste Rückraumspieler des Planeten

69 Tage später: Auftritte wie dieser in Köln sind selten, meist ist es eher ruhig um Joachim Deckarm. Regelmäßig bekommt er Besuch im evangelischen Seniorenzentrum in Gummersbach. Alte Mannschaftskameraden gehen mit ihm einen Kaffee trinken. Manchmal sehen sie sich Bundesligaspiele des VfL Gummersbach an. Einer kommt einmal in der Woche zum Schachspielen. Ein anderer füllt regelmäßig einen Lederbecher mit Würfeln, die sich dann mit einem dumpfen Poltern auf dem Tisch verteilen. Routine, eine Art Regelmäßigkeit im Leben von Joachim Deckarm, die es viele Jahre lang nicht gab. Nicht seit dem 30. März 1979. Seit dem Unfall, der sich am Samstag zum 40. Mal jährt.

Er war der beste Handballer der Welt: Joachim Deckarm.
Er war der beste Handballer der Welt: Joachim Deckarm. © dpa pa

23. Minute im Halbfinal-Rückspiel des Europapokals – Sekunden, in denen sich alles verändert. Der VfL Gummersbach spielt beim ungarischen Klub Banyasz Tatabánya. Gummersbach holte mit Deckarm drei Deutsche Meisterschaften, zwei Pokaltriumphe und zweimal den Titel im Europapokal. Der VfL gilt als spielstärkste Mannschaft der Welt und Rückraumspieler Deckarm als der beste Handballer des Planeten. Der gebürtige Saarbrücker, den alle nur Jo nennen, ist mit außergewöhnlicher Athletik und Sprungkraft gesegnet, er kann Spiele mit knallharten Würfen im Alleingang entscheiden. Durch seine sechs Tore wurde Deutschland wenige Monate zuvor im Finale gegen als unbezwingbar geltende Sowjets Weltmeister.

Brand: "Alle Spieler waren geschockt"

Die 23. Minute ist angebrochen, Heiner Brand hat einen Pass des ungarischen Torhüters an der Mittellinie abgefangen und an seinen Kumpel Jo weitergeleitet. Der 25-Jährige stürmt auf das Tor zu, als plötzlich Gegenspieler Lajos Pánovics vor ihm auftaucht. Die Männer stoßen mit den Köpfen zusammen, Deckarm stürzt frontal auf den nur mit einer dünnen PVC- Folie überzogenen Betonboden.

Stille. Entsetzen. Warten.

Heiner Brand brauchte damals einige Minuten, bevor er realisierte, was geschehen war. „Jos Gesicht war angeschwollen. Alle Spieler waren geschockt. Aber als Joachim neben dem Feld behandelt wurde, mussten wir weiterspielen“, erzählt Brand heute im Gespräch mit dieser Zeitung. Im Anschluss herrschte Ratlosigkeit. „Keiner wusste, wie es ihm geht. Zwischenzeitlich ging sogar das Gerücht um, dass er gestorben sei. Wir haben alle in der Kabine gesessen und geheult.“

Kämpfer auf dem Spielfeld, Kämpfer im Leben nach der Karriere

131 Tage lag Deckarm im künstlichen Koma, er hatte einen doppelten Schädelbruch, geplatzte Gefäße und Hinquetschungen erlitten. Es ging nach Budapest ins Krankenhaus zur mehrstündigen Gehirnoperation, dann weiter nach Köln und Homburg, wo Deckarm schließlich aufwachte. „Naiv wie wir waren, dachten wir: Jo ist aufgewacht und wird uns begrüßen. Dem war aber nicht so. Er hat uns gar nicht wahrgenommen“, sagt Brand.

Heiner Brand besucht seinen früheren Kollegen noch heute, um mit ihm zu würfeln.
Heiner Brand besucht seinen früheren Kollegen noch heute, um mit ihm zu würfeln. © dpa

3 Jahre verbrachte Joachim Deckarm in Reha-Zentren, die Therapien schlugen nicht an, der Zusammenstoß hatte aus dem begnadeten Sportler und Mathematikstudenten einen Invaliden gemacht. Erst als seine Eltern ihn zurück nach Hause holten, ging es bergauf. Sein früherer Jugendtrainer Walter Hürter kümmerte sich intensiv um den Weltmeister, Schritt für Schritt kämpfte sich Deckarm unter seiner Anleitung zurück ins Leben. Er lernte wieder sprechen und laufen, bald konnte er sogar wieder Schach spielen – und würfeln mit Heiner Brand, wenn der zu Besuch kommt. Der Kämpfer, der er stets auf dem Spielfeld war, ist Deckarm auch in seinem Leben nach dem Sport.

„Er wird immer auf fremde Hilfe angewiesen sein“, sagt Heiner Brand. „Aber es ist immer schön, mit ihm zu würfeln und zu frotzeln.“ Auch sein einstiger Nationalmannschaftskollege Kurt Klühspies genießt die gemeinsamen Treffen der 78er-Weltmeister: „Dass Joachim noch dabei ist, hat uns alle noch stärker zusammengeschweißt.“ Im Juni werden sie sich wieder für mehrere Tage treffen. Deckarm, sagt Brand, freut sich schon darauf.