Kasan. Das WM-Achtelfinale am Ort der deutschen Demütigung wird ein Wegweiser sein: Entweder ist für Frankreich Endstation oder Argentinien.

Didier Deschamps war noch keine zehn Jahre alt, als aus dem fernen Argentinien eine WM übertragen wurde, deren Bedeutung er in kindlicher Unbedarftheit nicht ansatzweise erahnen konnte. Die Schattenseite der Auflage 1978 inmitten einer Militärdiktatur, die damals nachweislich die Menschenrechte mit Füßen trat, interessierte auch in Frankreich eher nur am Rande. Für die Équipe Tricolore, in den 70er Jahren noch keine Fußball-Großmacht, war es ohnehin kein gutes Turnier.

Das erste Spiel gegen Italien 1:2 verloren, dasselbe passierte in der zweiten Partie gegen den Gastgeber. Dass Michel Platini damals die Führung von Daniel Passarella ausglich half nicht viel, denn Leopoldo Luque löste im River-Plate-Stadion den Freudentaumel aus. Frankreich war am 6. Juni 1978 vorzeitig ausgeschieden.

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    Wird Frankreichs Talentschuppen der Unreife überführt?

    Es gehört zu den Kuriositäten der WM-Geschichte, dass vier Jahrzehnte vergehen mussten, damit diese Nationen auf der WM-Bühne erneut gegenüberstehen. Das Achtelfinale zwischen Frankreich und Argentinien (Samstag 16 Uhr MESZ/ ARD) in Kasan gilt als die namhafteste Paarung. An der Kasanka-Mündung in die Wolga steht für beide Teams der Wegweiser: Entweder Frankreichs Talentschuppen wird der Unreife überführt oder aber Argentiniens Weltstar geht als Unvollendeter.

    Didier Deschamps konnte gar nicht anders, als im Vorlauf am Freitag mehr Fragen zu Lionel Messi zu beantworten, als zu seinem 80. Länderspiel als Nationaltrainer, mit dem er zum Rekordhalter aufsteigt. „Ich arbeite nicht für Rekorde“, beschied er grinsend. Ansonsten hatte der 49-Jährige zur Causa Messi gerne einiges zu sagen. „Messi ist Messi. Er hat einen enormen Einfluss. Schauen wir die Statistik an: 65 Tore in 127 Matches. Wir müssen ihn neutralisieren. Es gibt mehrere Möglichkeiten, seinen Einfluss zu verringern, aber wir haben ein junges Team.“

    Den Fakt der Unerfahrenheit zählt der General in den Pressekonferenzen so penetrant auf, als würde ein Feldwebel morgens beim Appell auf dem Hof seine Gefreiten ständig ins Ohr rufen, dass sie noch nicht reif fürs Gefecht wären. Die latente Selbstüberschätzung gilt als das Problem der veranlagten Rasselbande. Und so war ihr Lehrmeister so klug, keinen seiner Jungstars am Freitag vor der Weltpresse auf die Messi-Stufe heben.

    Mbappé ist eben kein Messi

    Weder Antoine Griezmann, 27, und erst recht nicht Kylian Mbappé, 19, von dem Deschamps sagte: „Mbappé ist explosiv, er ist schnell, aber er braucht Raum. Messi ist einzigartig, er ist auf einem besonderen Level.“ Sollte heißen: Noch ist der 31-Jährige besser.

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    Auch für den Weltmeisterkapitän von 1998 selbst geht es um viel: Zwar hat Deschamps vom Verband eine Jobgarantie bekommen, aber wenn sich die Generation Paul Pogba wie bei der WM 2014 im Viertelfinale gegen Deutschland, wie bei der EM 2016 im Finale gegen Portugal auch jetzt in die Knie zwingen ließe, würde das auch auf den Trainer zurückfallen. Wegen dessen eher pragmatisch anmutenden Spielstils wünschen sich viele schon Zinedine Zidane auf den Chefsessel, der als Schattenfigur über Deschamps schwebt.

    Die Sportzeitung „L’Équipe“, das Sprachrohr der verletzlichen französischen Fußballseele, urteilte zuletzt: „Wer den Fußball liebt, sollte bei dieser WM Spiele anschauen, bei denen Frankreich nicht mitspielt.“ Starker Tobak: Was bitte sollen erst die Deutschen sagen? Die sind schon zuhause, und den Argentiniern wäre das auch fast passiert. Deshalb blickte Deschamps seinen Kritikern beim Verhör gestern direkt in die Augen. Auch seine Spieler werden heute mehr Widerstände überwinden müssen als gegen Australien, Peru und Dänemark, wo man es sich zuletzt leisten konnte, Leistungsträger wie Torwart Hugo Lloris zu schonen.

    Argentinien wirkt verletzlich unter Sampaoli

    Auch die Argentinier hatten im letzten Gruppenspiel gegen Nigeria zwischen den Pfosten rotiert. Franco Armani stand auf einmal für Willy Caballero im Tor. Gezwungenermaßen. Irgendwas musste Trainer Jorge Sampaoli nach dem Reinfall gegen Kroatien tun. Die Albiceleste wirkt unter der Regie des 58-Jährigen erstaunlich verletzlich. Sampaoli kann sich noch weniger als sein Gegenüber ein Achtelfinal-Aus leisten.

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    Irgendjemand müsste wieder Verantwortung übernehmen, wenn Messi ausgerechnet bei Weltmeisterschaften ein Unvollendeter bliebe. Die Geschichte seines Scheiterns füllt drei Kapitel: 2006 in Deutschland setzte ihn der sture José Pekerman nicht ein, 2010 in Südafrika lag der Coach – oder die Witzfigur? – Diego Maradona so grandios daneben, dass das Genie gar nicht glänzen konnte.

    Auch 2014 in Brasilien ging Messi nur anfangs als Anführer voran. Ab dem Achtelfinale zogen Mitspieler und Landsleute die Lokomotive im Nachbarland bis ins Finale. Dort machte dann einer den Unterschied, dem bei der Einwechslung ins Ohr geflüstert wurde: „Zeige der Welt, dass du besser als Messi bist.“ Nach Mario Götze ist bald auch Joachim Löw entzaubert. Noch kann sich die argentinische Galionsfigur daher am besten selbst helfen: Würde ihm in der Arena, in der am vergangenen Mittwoch der deutsche Fußball seinen Nimbus verlor, der erste Treffer in der K.-o-Phase einer WM gelingen, wäre das ja schon mal ein Zeichen.