Hannover. Gerade waren die vielen Menschen mit den Kerzen in den Händen vor dem Stadion in Hannover angekommen. Sie reihten sich zu einer Lichterkette, mit der sie vor dem Freundschaftsspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen die Niederlande Solidarität zeigen wollten mit den Anschlagsopfern in Paris. Dann kam alles anders. Knapp 90 Minuten vor dem geplanten Anpfiff am Dienstagabend wurde die Partie abgesagt.
Dass es kein normales Länderspiel werden sollte, war schon am Tag in der Stadt spürbar. Kaum einmal Gesänge, die Fans verzichteten größtenteils auf Trikots oder bunte Hüte. Spätestens aber auf der Anfahrt zum Schützenplatz vor der HDI-Arena war dem letzten Anhänger der Nationalmannschaft klar, dass, um ein Zeichen für Freiheit und Demokratie zu setzen, ein Aufgebot an Sicherheitskräften nötig war. Kurz vor der Einfahrt auf den Parkplatz patrouillierten Polizisten mit Schnellfeuerwaffen im Anschlag, die Autos standen quer, so dass die Fußballfans nur im Schritttempo passieren konnten. Am Rand kontrollierten Beamte zwei Fahrzeuge aus den Niederlanden, ließen den Kofferraum öffnen.
Gegen 18.45 Uhr plötzlich Blaulicht, Sirenen auf den Straßen. Etliche Polizeifahrzeuge sausten an der Warteschlange vorbei Richtung Stadion. Irgendetwas stimmte hier nicht. Vor dem Stadion wartete Tausende darauf, in die Arena gelassen zu werden. Ganz automatisch kam der Gedanke hoch: Was ist, wenn jetzt einer unter denen ist, der einen Sprengstoffgürtel um den Körper geschnallt hat? Die Verunsicherung war förmlich spürbar.
Aber nichts ging mehr. Alle Eingänge dicht, auch an Tor 3, dort, wo die Kanzlerin eigentlich in einigen Minuten einfahren sollte.
„Wir dürfen niemanden hier mehr hereinlassen“, sagte ein Polizist, der über Funk die aktuellen Informationen hörte. „Ich habe gehört, dass das Spiel wohl abgesagt wird.“ Einige Tausend Zuschauer waren zu diesem Zeitpunkt bereits in der Arena, darunter etliche Journalisten. Höflich, aber mit bestimmten Worten wurden die Menschen aufgefordert, unverzüglich das Stadion zu verlassen – und zwar unverzüglich. Den Hostessen ließ man nicht einmal mehr Zeit, Jacken oder Mäntel zu holen. „Alle raus hier!“
Die Enttäuschung war in den Gesichtern aller zu sehen, aber erstaunlich ruhig und langsam verließen die Zuschauer die Arena. Von Panik keine Spur. Oder war es ganz einfach so, als ob man nicht wirklich fassen konnte, was da gerade vor sich ging? Vor dem Stadion, wo die Imbissbuden und das Zelt des Fanclubs der Nationalmannschaft, bildeten sich Gruppen von Menschen, die wissen wollten, was hier passiert.
Es vergingen nur wenige Minuten, bis ein Polizeibeamter sie über ein Megafon aufforderte: „Bitte gehen Sie nach Hause! Das Spiel ist abgesagt, es gibt keinen Grund mehr, länger hier zu bleiben.“ Dann war plötzlich auch der Zugang zum Schützenplatz gesperrt. Viele Fans wurden aufgefordert: „Gehen Sie hier die Straße entlang. Zum Platz kommen Sie jetzt nicht mehr.“
Nur einen Steinwurf entfernt sammelte sich die DFB-Spitze im Hotel Courtyard Marriott, einige Journalisten und Fans warteten. Augenblicke später wieder die Lautsprecheransage von der Polizei: „Wenn Sie kein Hotelgast sind, verlassen Sie bitte den Vorplatz.“ Sicherheitskräfte kontrollierten den Zugang. Gegen 20.15 Uhr – eigentlich sollte in einer halben Stunde der Anpfiff erfolgen – herrscht eine fast schon gespenstische Stille rund um das Stadion, eine tiefe Traurigkeit hat sich wie ein dunkler Schleier über die Stadt Hannover gelegt.
Mehrere Spezialeinsatzkommandos fuhren vor dem Stadion vor. Die Evakuierungszone wurde mit Absperrband mit der Aufschrift „Vorsicht, Lebensgefahr!“ kenntlich gemacht. Unter den Zuschauern brach jedoch keine Panik aus, es herrschte vielmehr eine gespenstische Ruhe rund um das Stadion. Die Polizei war überall präsent, Blaulicht prägte die Szenerie, Beamte kontrollierten Autos mit Maschinengewehren im Anschlag. „Seit dem Krieg im Kongo habe ich nicht so viel Polizei, Waffen etc. gesehen“, twitterte der frühere St.-Pauli-Profi Michel Dinzey aus dem Stadion. Auch weitere Großveranstaltungen in Hannover waren betroffen. Ein Konzert des Jazz-Saxofonisten Maceo Parker, zu dem etwa 900 Menschen erwartet wurden, wurde abgesagt. Der Komiker und Musiker Helge Schneider musste eine Lesung absagen. Das Konzert der Söhne Mannheims in der Tui-Arena fand dagegen wie geplant statt.
Reinhard Rauball, Interimspräsident des Deutschen Fußball-Bundes, sprach von einem „traurigen Tag für den deutschen, aber auch den niederländischen Fußball. Das Spiel hätte unter dem Zeichen des gegenseitigen Respekts und der Solidarität mit den Opfern von Paris stehen sollen. Dass unsere Mannschaft innerhalb von vier Tagen zweimal ein so tragisches Erlebnis hat, hätte ich mir nicht vorstellen können. Mein Eindruck ist, dass der Fußball in Deutschland mit dem heutigen Tage in allen Facetten eine andere Wendung genommen hat.“
Rauball hatte die Mannschaft auf ihrem Weg zum Stadion telefonisch über die Absage informiert. Das Weltmeisterteam kehrte daraufhin um und ins Teamhotel nach Mannschaft zurück. Die Niederländer wurden noch am Abend in ihre Heimat ausgeflogen.
Es war das dritte Mal, dass ein Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft abgesagt wurde. Am 11. November 2009 fiel die Partie gegen Chile infolge des Selbstmords von Robert Enke aus. Ein für den 20. April 1994 geplantes Spiel in Berlin wurde vom englischen Verband abgesagt. Grund war die Sorge, dass Rechtsextreme das Spiel an Hitlers Geburtstag für Gewalt missbrauchen könnten.
Am Abend wurde ein Teil des Hannoveraner Hauptbahnhofs gesperrt, weil die Polizei einen Intercity untersuchte. Auch im U-Bahn-Verkehr in der niedersächsischen Landeshauptstadt kam es zu Einschränkungen. An einigen Haltestellen in der Innenstadt hielten die Bahnen nicht mehr. Dies sei auf Wunsch der Polizei angeordnet worden, sagte der Sprecher der Nahverkehrsbetriebe.
Auch in Hamburg löst die Absage Betroffenheit und Enttäuschung aus
„Der Terror hält Einzug in unser Leben“, schrieb der frühere Bundesligaspieler Hans Sarpei bei Twitter. „Was bis Freitag undenkbar war, ist seit diesen Tagen Realität. Ich bin entsetzt und tieftraurig.“ Auch in Hamburg lösten die Vorgänge in Hannover Betroffenheit und Bestürzung aus. „Ich bin wahnsinnig enttäuscht. Wir wollten doch ein Zeichen setzen, dass wir uns unseren Lebensstil nicht von Terroristen diktieren lassen“, sagte Jürgen Mantell, Präsident des Hamburger Sportbundes, am Rande der Hamburg-Soirée. Altbürgermeister Ole von Beust nannte die Spielabsage „traurig, aber Sicherheit geht vor“. Dieter Kühnle, Berater des Internationalen Olympischen Komitees, sprach von einem „verheerenden Signal“.
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