Bank-Geheimnisse

Ahrensburger hilft Kindern aus Tschernobyl

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Mira Frenzel
Wulf Garde im Garten seines Nachbarn im Gespräch mit Abendblatt-Mitarbeiterin Mira Frenzel

Wulf Garde im Garten seines Nachbarn im Gespräch mit Abendblatt-Mitarbeiterin Mira Frenzel

Foto: Birgit Schücking

Bank-Geheimnis: In unser Serie treffen wir Stormarner auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Wulf Garde, Vorsitzender des Vereins Pryvit.

Ahrensburg.  Die Art, auf die Wulf Garde so in die Kamera schaut, die dürfte der Betrachter des Urlaubsfotos zu Recht als ein bisschen grimmig bezeichnen. Es ist ein angemessener Gesichtsausdruck des sonst gar nicht grimmigen Ahrensburgers. Wulf Garde posiert für das Bild vor einem Gebäude, das zum Inbegriff einer unfassbaren Katastrophe geworden ist und deren Folgen ihn tagtäglich beschäftigen: Atomreaktor 4, Tschernobyl. Es ist der Reaktor des sowjetischen Atomkraftwerks, der am 26. April 1986 nach einem missglückten Test explodierte und die ganze Region verstrahlte. Bis heute sind Umwelt und Menschen schwer radioaktiv belastet.

Der GAU im Reaktor 4 ist auch Auslöser dafür, dass der pensionierte Physiklehrer jährlich in die Ukraine reist. Der Grund seines Engagements sind allerdings die Menschen. Vor allem die Kinder. Und die sind nicht nur oft schwer krank infolge der Strahlenbelastung, sie sind ebenso oft auch sehr arm. Viele haben ihre Eltern verloren, weil die an Krebs gestorben sind.

Seit 2011 leitet der 72-Jährige den . Vorrangiges Ziel des Vereins ist es, Kindern aus der Region um das ehemalige Kernkraftwerk eine kurze Auszeit von ihrem schweren Alltag zu verschaffen. Jeden Sommer kommen etwa 16 junge Ukrainer nach Großhansdorf, um sich zu erholen. Aber auch, um bei Fachärzten behandelt zu werden. 25.000 Euro kostet der Urlaub jährlich.

Garde schreibt Dankesbriefe per Hand

„Spenden für diesen Erholungsurlaub zu akquirieren, das ist meine vornehmlichste und schwierigste Aufgabe“, sagt Garde. Und weil der Ahrensburger ein höflicher Mensch der alten Schule ist, schreibt er den Spendern, darunter die Serviceclubs der Region, zum Dank lange Briefe – mit der Hand, versteht sich. Und das Foto, auf dem er so grimmig schaut, ist nicht auf einem Computer abgespeichert, es steckt in einem Fotoalbum. Dort gibt es übrigens auch Fotos seines letzten Ukraine-Urlaubs, auf denen Garde lacht.

Der ganze Papierkram, der so anfällt, wenn ein Verein geleitet wird, wenn Ukrainer nach Deutschland einreisen wollen, wenn Ausflüge und Unterkünfte gebucht werden müssen, der ist etwas lästig. „Ich kann mit Papierkram aber ganz gut“, sagt Garde und lächelt zufrieden. Weil er sich insgeheim wohl freut, dass er den Job als Vereins-Chef ziemlich gut hinbekommt. Danach redet er mit noch größerer Begeisterung über die vielen fähigen Helfer in Stormarn und in der Ukraine, ohne die das Projekt unmöglich wäre.

Früher war er Atomkraft-Fan

Ganz früher mal, da fand Garde Atomkraft richtig gut. „Ich war der totale Fan“, sagt er. Weil die Theorie so spannend ist, versteht sich. 1979 änderte er seine Meinung. Im September des Jahres kam es im US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island (bei Harrisburg, Pennsylvania) zu einem Kernschmelzunfall. Sieben Jahre später explodierte der Reaktor in Tschernobyl. „Ab dem Tag war ich Atomkraftgegner“, sagt er. Wulf Gardes damalige Frau war zu dem Zeitpunkt mit seiner jüngsten Tochter schwanger („Da stellt man sich vor, wie es einer Frau in der gleichen Situation bei Tschernobyl ergeht.“) Und seit dem Tag hat er seinen Schülern am Charlotte-Paulsen-Gymnasium in Hamburg-Wandsbek und später am Marienthal-Gymnasium beigebracht, was die radioaktive Strahlung im menschlichen Körper und mit der Natur anrichtet.

Seit er den Verein leitet, steckt er noch tiefer im Thema. Sein Ehrenamt für Pryvit – Hilfe für Tschernobyl-Kinder ist ein Vollzeitjob, manchmal auch einer mit Überstunden. Ganz ungefährlich ist er auch nicht. Wenn Garde und seine Mitstreiter die Familien in der Ukraine besuchen, dann haben sie einen Geigerzähler im Gepäck. „Der schlägt manchmal ziemlich aus“, sagt Garde und lächelt darüber, weil er „kein sorgenvoller Mensch“ sei. „Außerdem habe ich ja meine vier Kinder schon.“ Vom Ältesten, er ist 40 Jahre alt, bis zur Jüngsten, der 28-jährigen Tochter, sind alle im Verein. Gardes Freundin auch. „Aber sie meckert manchmal, wenn ich wieder so viel für den Verein arbeite.“ Dann spielt er Doppelkopf mit Freunden oder trifft ehemalige Lehrerkollegen zum Bratkartoffelessen und „um die Weltlage zu diskutieren“. Dazu gibt es Bier.

Wodka zu trinken gehört zum Job

Viel Wodka kann Garde im Notfall aber auch vertragen. „Den bekommen wir in der Ukraine immer, wenn wir die Familien besuchen und die Kinder für die Freizeit auswählen.“ Wassergläser voll seien das, erzählt Garde und spreizt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand so weit auseinander wie nur möglich, um die Füllhöhe zu zeigen. „Das wird dann nach der dritten, vierten Familie schon schwierig.“

Um ein Haar würde Garde übrigens nicht einmal im Jahr viel Wodka trinken und ukrainische Kinder glücklich machen. Eigentlich wollte er nach seiner Pensionierung ein Buch schreiben. „Ich habe eines der größten Archive über Raumfahrt“, sagt er und zeigt auf ein großes Regal. „Alles Bücher über Raumfahrt. Ich habe aber noch mehr.“ Der Arbeitstitel seines Buches war „Raumfahrt im Spiegel der Presse“. Von seiner „langen Astrophysik-Phase“ gibt es auch Fotos. Eines ist 1975 im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten entstanden und zeigt Wulf Garde neben Neil Armstrong, dem ersten Mann auf dem Mond. Garde schaut etwas nervös in die Kamera.

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