Wedel/Hamburg. "Tolle Sache. Ich habe mir vorher unter dem Fach Geomatik gar nichts vorstellen können und bin überrascht, wie praxisnah das ist. Das Studium würde mir auch Spaß machen." Michel Möllers Halbzeitbilanz beim wissenschaftlichen "Speed-Dating" in der Universität Hamburg fällt eindeutig positiv aus. Bei Kaffee, Obst und belegten Brötchen sortiert der 18 Jahre alte Schüler des Wedeler Johann-Rist-Gymnasiums im Erdgeschoss des Geomatikums an der Bundesstraße seine Eindrücke.
Die Veranstaltung funktioniert nach dem Muster des klassischen "Speed-Dating", bei dem zwei wildfremde Menschen wenige Minuten Zeit haben, sich gegenseitig vorzustellen und herauszufinden, ob sie sich sympathisch sind oder nicht. Mit dem Unterschied, dass hier 150 Gymnasiasten aus naturwissenschaftlich orientierten Profilklassen aus Hamburg und dem Umland in kleinen Gruppen 15 Naturwissenschaftlern, Forschern und Ingenieuren aus fünf Hamburger Hochschulen gegenübersitzen.
30 Minuten dauert ein Date, dann wird gewechselt. Vier dieser Begegnungen durchläuft jeder der Gymnasiasten. Die ersten beiden geben die Veranstalter vor, die letzten zwei dürfen die Schüler sich frei wählen.
Eine halbe Stunde lang haben die Profis aus Spezialgebieten wie Werkstofftechnik und Theoretischer Physik, Stadtplanung und Technomathematik Zeit, die Schüler für ihr Fach zu begeistern und ihnen anschaulich zu zeigen, worin eigentlich der praktische Nutzen und die gesellschaftliche Relevanz dieser abstrakten Disziplinen bestehen. Das Ziel der Begegnung heißt Nachwuchswerbung in der Region. Die Veranstalter, die Hamburger Initiative Naturwissenschaft & Technik (NaT) GmbH, will die Jugendlichen mit der Vielfalt an Fachgebieten aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, abgekürzt MINT, bekannt machen und ihr Interesse an diesen Fächern stärken.
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Finanziert wird die Initiative zur Hälfte von der Hamburger Körber-Stiftung und dem Verbund der fünf Hamburger Hochschulen HafenCity Universität (HCU), Helmut-Schmidt-Universität (Universität der Bundeswehr), Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Technische Universität (TUHH), Universität Hamburg sowie der Hamburger Technologie-Stiftung. Die andere Hälfte des Budgets müssen NaT-Chefin Sabine Fernau und Team bei anderen Geldgebern einwerben.
Die Uni ist Neuland für Michel Möller und seine Mitschüler aus der Wedeler Physikklasse im zwölften Jahrgang. Sie sind mit ihrer Physiklehrerin Silke Stamm im Kreis Pinneberg die ersten Schüler, die an dieser speziellen Verabredung teilnehmen. Betont lässig, aber auch ein wenig ratlos suchen sie zunächst ihre Dating-Gruppe an den Ständen im Erdgeschoss. Die wenigsten der Schüler wissen konkret, welche Ausbildung sie nach dem Abitur anstreben. "Vielleicht Bauingenieurwesen oder Maschinenbau", sagt Michel. Sören könnte sich "Informatik und alles, was mit Computern zu tun hat" vorstellen. Um den potenziellen Forscher-Nachwuchs geordnet durch die 15 möglichen Veranstaltungen in den zwölf Stockwerken des Geomatikums zu führen, haben die Organisatoren alle Schüler in Gruppen eingeteilt. Michel und sein Mitschüler Yannick Keck, 16, müssen zu "Albert Einstein", ihre Klassenkameraden Sören Hentschel, 19, und Tim Wrede, 18, zu "Konrad Zuse" und "Marie Curie". Wie bei einer Pauschalreise recken Erstsemester-Studenten der beteiligten Hochschulen Papierschilder in die Höhe, um die ihre Schäflein sich sammeln.
Der erste Weg führt in den Hörsaal. Schön säuberlich getrennt nach Physik-Ikonen, versteht sich. Die hölzernen Klappstühle auf den Rängen des Saals sind mit entsprechenden DIN A4-Schildern beklebt. Alle zehn "Einsteins", acht Jungen und zwei Mädchen, sitzen mit ihrem Guide Tobias Kartlen in Reihe vier. Nach einer kurzen Einführung durch den Dekan der Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften der Universität Hamburg, Professor Heinrich Graener, machen sich die "Einsteins" unter Führung ihres Guides Tobias auf den Weg zu ihrer ersten wissenschaftlichen Verabredung.
In Zimmer 432 wartet Professorin Irina Smirnova von der TUHH. Ihr Thema heißt Thermische Verfahrenstechnik. Keiner der zehn "Einsteins" hätte es sich freiwillig gewählt. Die wenigsten haben einen Schimmer, was man in diesem Fach lernen kann.
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Das ist nach dem Date anders. Am Beispiel Bio-Ethanol erklärt die junge Professorin ihre Disziplin. Sie stellt Fragen, sie bezieht die Schüler ein. Bis jeder verstanden hat, wie aus Stroh Bio-Sprit wird und welche segensreiche Rolle die Thermische Verfahrenstechnik dabei spielt. "Das hat meine Erwartungen absolut übertroffen. Ich konnte mir vorher nichts unter Thermischer Verfahrenstechnik vorstellen, jetzt finde ich das Fach sehr interessant", sagt Michel.
Zwei Räume weiter wartet die nächste Entdeckung auf die Wedeler. Das Fach heißt Geomatik. "Es ist ein Mix aus Mathe und Informatik, Geodäsie und Kartografie", sagt Geomatik-Professor Thomas Schramm. Sozusagen klassische Vermessungstechnik 2.0. Die Spezialisten scannen 1000 Jahre alte Klosterruinen in Spanien und verschobene Kontinentalplatten in Chile.
Die Runde wird merklich munterer, als Schramm und sein Kollege Carlos Acevedo Dias aus dem studentischen Alltag zwischen Norwegen und dem Südpol zeigen. "Was muss man denn mitbringen für ein Geomatik-Studium?", fragt einer. "Man sollte kein Mathe-Verweigerer sein und frische Luft mögen", antwortet Schramm.
Nicht nur Michel Möller entdeckt in diesen 30 Minuten eine weitere Berufsperspektive für sich. Schramm hat auch in Mitschüler Yannick ein kleines Feuer für die Geomatik entfacht. "Ich konnte mich bisher nie für etwas rein Naturwissenschaftliches begeistern, eher in Verbindung mit Wirtschaft", sagt der Rist-Schüler. "Hier finde ich Themenfelder, von denen ich vorher nie etwas gehört habe."
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