Lentföhrden. Jedes Kind hat irgendwann eine unschlagbare Geschäftsidee. Zum Beispiel Zucker, Wasser und Zitronensaft verrühren und auf der Straße als Limonade verkaufen. Oder Holzsammeln im Wald für Ommas Ofen oder Einkaufstaschen vom Supermarkt nach Hause tragen.
Die allermeisten Kinder verlieren spätestens dann das Interesse an ihrer Geschäftsidee, wenn sich die selbstgesteckten Einnahmeziele ("Soooo viel Geld, dass ich immer Lollis kaufen kann!") nicht verwirklichen lassen.
Die Geschichte von Sascha Kruse ist deswegen so schön, weil sie auch von der Verwirklichung eines Kindertraumes erzählt. Von einem, der es geschafft hat, mit einer im besten Sinne kindlichen Idee ein Geschäft aufzuziehen, mit dem er heute eine Doppelhaushälfte finanzieren und seine kleine Familie ernähren kann. Und das ging so.
Wir schreiben das Jahr 1990. Sascha Kruse ist 15 Jahre alt. Ein Junge, wie viele in der Gegend um Bad Bramstedt. Er mag Sport, besonders Fußball. Eine Mischung aus Langeweile und Neugier ist es, die Sascha und einen Kumpel aber immer wieder zu einem Golfplatz treiben. "Wir sind immer in den Knicks rund um den Platz rumgebutschert", sagt Kruse. Denn im Dickicht rund um die englisch-kurz gehaltenen Grüns des Golfplatzes ließ sich das abstauben, was Golfspieler mit zu viel Verve oder durch fehlendes Feingefühl am Eisen oder Holz dorthin gepfeffert hatten: Golfbälle. Diese kleinen, harten, weißen Dinger umweht Anfang der 90er-Jahre immer noch der Glanz der absoluten Exklusivität. Außerdem sind sie sehr teuer. Insofern taugen sie gut als Trophäe für halbstarke Jungs.
Die Suche in den Knicks ist mühsam und wenig ergiebig. Sascha Kruse beobachtet, wie die elitäre Gesellschaft auf dem Platz ein ums andere Mal an den Wasserhindernissen, den seichten Teichen auf dem Platz, scheitert. "Im Wasser, dachte ich, da müssen jede Menge Bälle zu holen sein."
Kruse und sein Kumpel wagen sich vom Knick auf die Fairways. Nicht in edlen Golfschuhen, sondern in derben Gummistiefeln. Sie waten im Wasser der Teiche. Und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. So viele Bälle. So unglaublich viele Bälle. Ein Vermögen!
Ein regnerischer Tag im April 2008, 18 Jahre später. Golfmanager Arne Heers (41) holpert in einem dieser elektrisch betriebenen Carts über seinen Golfplatz, den "Golfpark Gut Bissenmoor" in Bad Bramstedt. Seit sechs Jahren hat der Golfpark 18 gepflegte Löcher, an denen sich mittlerweile 550 Mitglieder mit mehr oder weniger Handicap regelmäßig versuchen. Damit das zur sportlichen Herausforderung wird, wurden unter anderem vier Teiche als Hindernis auf dem Weg zum Grün angelegt. Die Teiche bedecken insgesamt eine Fläche von etwa 40 000 Quadratmetern und manche von ihnen sind bis zu vier Meter tief.
Heers steuert ein tückisches Loch an. Rechts der Spielbahn, hinter dem "Semirough", lassen sich Hausfrauen durch die Wohnzimmerscheiben beim Bügeln beobachten. So nah stehen hier die Einfamilienhäuser des Wohngebietes Bissenmoor an der Platzgrenze. Links schmiegt sich das Fairway in einer Linkskurve an einen großen Teich. "Die Leute wollen den Ball natürlich möglichst weit von der Häuserreihe weg halten", sagt Heers. Landet er nämlich dort, ist der Ball ungültig, der Golfer bekommt einen Strafschlag und muss noch mal abschlagen. Die meisten wagen deswegen lieber den Schlag über das Wasser. Fällt der Ball da rein, darf der Golfer den Ball an der Teichgrenze "droppen" und bekommt einen Strafschlag. Immerhin hat er so aber schon eine Menge Yards gemacht und ist dem Grün nahe. Heers: "In unseren vier Teichen liegen wohl insgesamt so um die 20 000 Golfbälle. Pi mal Daumen."
Heers stoppt den Cart am Teich. Im Uferbereich, auf dem zu dieser Jahreszeit gerade mal fünf oder sechs Grad kalten Wasser, schwimmt ein gelbes Kinderplanschbecken mit grünen Schildröten drauf. Und in dem albernen Plastikding liegen geschätzte 1000 Golfbälle. Im Teich, irgendwo in der Mitte, blubbert es. Die Blasen bilden eine Spur, die langsam dem Ufer näher kommt. Plötzlich taucht Sascha Kruse vor Heers und dem Planschbecken auf. In seinen mit Neoprenhandschuhen geschützten Händen hält er einen Netz-Sack mit der Aufschrift Poseidon. Der Gott des Meeres scheint auch für Golfteiche zuständig zu sein. Denn er hat Sascha Kruse eine reiche Beute beschert. Kruse kippt weitere etwa 800 Bälle in das Planschbecken. Dann nimmt er die Atemmaske ab und sagt: "Moin!" Sascha Kruse hat die Gummistiefel gegen einen professionellen Taucheranzug getauscht. Das Ziel ist dasselbe wie damals vor 15 Jahren: So viele Golfbälle abstauben wie möglich.
Aus dem Kinderspiel ist ein erwachsenes Geschäft geworden. Und aus Sascha Kruse der wohl einzige professionelle Golfballtaucher Deutschlands. "So nebenher machen das wohl einige. Ich kenne aber keinen, der damit sein Geld verdient", sagt Kruse, als er nach seinem Tauchgang in Jogging-Klamotten im Club-Restaurant sitzt und sich einen wärmenden Latte macchiato gönnt. "Golfball Comeback" hat Kruse seine Ein-Mann-Firma getauft. Draußen, zwischen den dicken SUVs der Golfspieler steht sein roter Firmen-Wagen mit der Geschäftsanschrift im Heckfenster. Nicht selten bleiben Passanten davor stehen. Und vergewissern sich, dass sie richtig gelesen haben.
Auf den Golfplätzen in ganz Norddeutschland, in einem Bereich zwischen Süd-Dänemark und Nord-Niedersachsen, ist Sascha Kruse in der Hauptsaison zwischen März und November unermüdlich im Einsatz. Drei- bis viermal die Woche geht er stundenlang auf Tauchstation. "Anfangs habe ich das neben meinem regulären Job erledigt. Erst 2007 habe ich alles auf eine Karte gesetzt und mich selbstständig gemacht", sagt Kruse. Denn die Golfplatzbetreiber haben längst verstanden, dass der ungewöhnliche Service des Tauchers aus Lentföhrden nur Vorteile bringt. Kruse: "Ich leiste den Service und bringe auch noch Geld mit."
Für jeden Ball, den Kruse aus dem Wasser fischt, zahlt er dem Club eine vereinbarte Ablöse. Außerdem hilft er den Platzbetreibern, die Folge einer peinlichen Unsitte auf den Golfplätzen in Grenzen zu halten. Golfspieler sind in der Regel keine Hartz-IV-Empfänger. Trotzdem wollen sie an den Wasserhindernissen nicht ihre teuren Golfbälle aufs Spiel setzen, etwa den Rolls-Royce unter den Bällen, den Titleist Pro V1, zum Stückpreis zwischen fünf und sechs Euro. Also stehlen sie beim Üben auf der Driving Range einfach ein paar clubeigene Bälle, die sie dann beim Abschlag über ein Wasserhindernis auf das Tee legen. Kruse: "Alle Range-Bälle haben eine Markierung. Wenn ich die rausfische, bekommen die Clubs die Bälle kostenlos zurück."
Mit der restlichen Ausbeute fährt Sascha Kruse dann zurück zu seiner Doppelhaushälfte in Lentföhrden. Im Waschkeller steht eine professionelle Golfballwaschanlage aus England und eine der Marke Eigenbau: Eine Waschmaschine, in deren Trommel Bürsten verschraubt wurden. Im 30-Grad-Waschgang werden die Bälle von der dunklen Patina des Teiches befreit. Dann sortiert Kruse im Hobbykeller des Hauses die Bälle nach Güte in Kunststoff-Boxen, die in langen Regalen stehen. 50 Topbälle Titleist Pro V1 gibt es bei ihm für 66 Euro, also für nur 1,32 Euro das Stück. Jeder Pro V1, den Kruse in diesem Jahr noch aus den Teichen holt, ist quasi schon verkauft. Es bestehen Wartelisten für das edle Teil. Im Übrigen erleben bei Kruse Golfbälle aller Marken und Güten ihr Comeback. "Für 30 Cent bekommen die Golfer bei mir einen passablen Ball", sagt Kruse. Aber auch die Ausschussware ist begehrt, die Bälle mit Macken, mit hässlichen Schmierereien drauf oder sonstigem Makel. Kruse: "Manche Kunden kommen bei mir vorbei und nehmen 1200 Bälle der schlechtesten Sorte für 15 Cent das Stück mit. Dann fahren sie an eine Klippe und dreschen die Dinger in die Ostsee." Etwa 80 000 Bälle setzt der Golfballtaucher Kruse im Jahr ab. Die Bestellung läuft in der Masse über seine Homepage www.golfballcomeback.de und der Vertrieb per Postversand.
Die Faszination Golfball, die den 15-jährigen Sascha Kruse in Gummistiefeln auf das Fairway trieb, ist dem hauptberuflichen Golfballtaucher nicht abhanden gekommen. In Acylvitrinen verschlossen, in Dutzenden ehemaligen Überraschungseier-Plastikschalen gelagert, sind die etwa 1200 Bälle zu besichtigen, die Sascha Kruse nicht verkauft. Die Bälle mit den Emblemen von Clubs aus Hawaii, Amerika, Australien und ganz Europa. Oder die verrückten Bälle, in allen Farben, mit schielenden Kühen oder anderen Ulk-Motiven. "Ich habe sämtliche Automarken, von Maserati, Ferrari, Rolls-Royce, und Bentley bis zu Volvo", sagt Kruse. Viele davon könnte er locker bei Ebay für gute Beträge an Sammler verkaufen. Doch er behält sie lieber in seinem Hobbykeller. Sein liebster Ball steht in einer dreieckigen Acrylvitrine ganz oben auf dem Spitzenplatz. Es ist ein gut erhaltener Ball mit dem Vereinslogo des unerreichten und herrlichen FC Barcelona. Er liebt diesen Verein. Wie gesagt: Sascha Kruse spielte als Junge schon Fußball. Er ist heute noch aktiv. An der Wand im Hobbykeller hängt ein Foto von Luis Figo im Barca-Trikot. Trotzdem er alle Golfplätze Norddeutschlands kennt, wenn auch nur aus der Fischperspektive, hat er doch nie den Drang verspürt, ein Eisen oder ein Holz in die Hand zu nehmen und abzuschlagen. Und auch die Taucherei ist für ihn nur Mittel zum Zweck, Korallenriffe im Roten Meer oder Wracks im Atlantik reizen ihn nicht. Die Bälle haben es ihm angetan. Golfbälle, weil sie Doppelhaushälfte und Familie finanzieren. Die Fußbälle, weil er dafür sein Herzblut gibt.
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