Familiendrama

Mädchen (17/18) ziehen in Terrorkrieg - Vater bringt sich um

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Ein Großaufgebot an Rettungskräften kümmerte sich nach der durch den Selbstmord ausgelösten Massenhysterie um viele Betroffene.

Ein Großaufgebot an Rettungskräften kümmerte sich nach der durch den Selbstmord ausgelösten Massenhysterie um viele Betroffene.

Foto: Timo Jann

Geesthacht. Weil seine Tochter (18) sich Terrorkämpfern anschließt, bringt sich sich ihr Vater um. Er fühlte sich von Behörden im Stich gelassen.

Geesthacht. Es war offenbar eine Verzweiflungstat, die Handlung eines Vaters, der die Sorgen um seine Tochter nicht mehr ertragen konnte: Ercan B. (50) hat sich umgebracht. Seine 18-jährige Tochter Ece ist zusammen mit ihrer Freundin Merve S. (17) aus Billstedt von zu Hause weggelaufen – sie wollen sich in Syrien den Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staates (IS) anschließen.

Mädchen sind seit dem 2. Juni verschwunden

Seit dem 2. Juni sind die beiden Mädchen verschwunden. „Wir können bestätigen, dass die 18-Jährige an diesem Tag mit einer 17 Jahre alten Freundin in die türkische Hauptstadt Istanbul geflogen ist“, sagt Stefan Jung, Sprecher des Landeskriminalamts (LKA) Schleswig-Holstein. Über die weitere Reiseroute habe das LKA keine Informationen.

Flüge im Reisebüro mit gefälschter Vollmacht gebucht

Die Mädchen hatten ihre Ausreise offenbar von langer Hand geplant. Darauf weisen Notizen hin, die Familienangehörige in ihren Zimmern fanden. Nach Recherchen des NDR buchten sie ihre Flugtickets nach Istanbul in einem Hamburger Reisebüro. Die 16-jährige Merve S. legte dafür angeblich eine gefälschte Vollmacht vor.

Nach Angaben der Familien, die in Kontakt mit türkischen Behörden stehen, sollen sich die beiden bis vor wenigen Tagen in Istanbul aufgehalten haben. Ein naher Verwandter sagte gegenüber der Bergedorfer Zeitung er habe mehrfach die Handys der Mädchen angerufen. Auf dem Mobiltelefon von Merve habe sich ein Mann gemeldet. "Er hat gesagt, ich solle gefälligst seine Frau in Frieden lassen", berichtet der Angehörige. Der gegenwärtige Aufenthaltsort der beiden Mädchen sei auch der Familie unbekannt.

Familie galt als "integriert" - Terrorkontakt über Facebook

Die Familie von Ece B. ist integriert und aufgeschlossen. Der Vater lebte seit 35 Jahren in Deutschland, arbeitete bei Jurid in Glinde. Doch Ece wollte einen anderen Weg gehen: Im November 2014 hatte die 18-Jährige mit einer Freundin schon einmal versucht, sich nach Syrien abzusetzen – offenbar hatte sie über soziale Netzwerke Kontakt zu den Kämpfern des IS hergestellt.

Schwere Vorwürfe des Vaters an die Behörden

„Damals holten Familienangehörige die junge Frau aus Istanbul ab“, so LKA-Sprecher Stefan Jung. Das gelang diesmal nicht mehr, in Istanbul verliert sich die Spur der Schülerinnen. Das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein stand seitdem in Kontakt mit der Familie, unternahm aber nichts, um eine erneute Ausreise zu verhindern. "Wir hatten keine Anhaltspunkte, dass Ece B. sich radikalisierte oder einer verbotenen Organisation anschließen will", sagte LKA-Sprecher Jung gegenüber dem NDR. "Hätte man das gewusst, hätte man über bestimmte Maßnahmen nachdenken können."

Offenbar fühlte sich die Familie von den Behörden in Stich gelassen. Vater Ercan B. sagte noch am Freitag gegenüber dem TV-Magazin Panorama "Warum konnte sie einfach in ein Flugzeug steigen? Warum hat sie niemand gehindert?". Das Ziel des der Tochter, in den Dschihad zu ziehen, seien doch seit dem ersten Versuch eindeutige gewesen. Zwei Tage später war der 50-Jährige tot - Selbstmord aus Verzweiflung.

Diesmal hatte Ece ihre Eltern angelogen. Nach Informationen unserer Zeitung hat sie ihnen erzählt, sie fahre auf Klassenreise nach Berlin. Stattdessen machte sie sich offenbar auf den Weg ins Kriegsgebiet.

Es gab deutliche Anzeichen für eine Radikalisierung

In den vergangenen zwei Jahren hatten sie sich immer stärker verschleiert. "Ich denke mal, dass es wirklich so war, dass sie diesen Weg gehen wollte, dass sie sich darauf vorbereitet hat", sagte die Mutter von Merve im Interview mit dem NDR-Magazin Panorama. "Einen Monat vorher fing sie an, auf dem Teppich, auf dem Fußboden zu schlafen. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie, dass sie Rückenschmerzen hat durch die Arbeit und dass ihr das gut tut. Ich fand's komisch, aber ich hab es erst mal so hingenommen." Auch die Geesthachterin Ece B. habe sich zusehends radikalisiert. Sie habe im Internet Videos des Salafisten-Predigers Piere Vogel angesehen. "Plötzlich trug sie ein Kopftuch Dann sogar Hijab", berichtete ein Nachbarmädchen der Hamburger Morgenpost.

Terrormilizen werben verstärkt junge Frauen an

Die Terrormilizen, die vor allem im Irak und Syrien einen blutigen Eroberungsfeldzug führen, versuchen derzeit verstärkt, weiblichen Nachwuchs zu gewinnen – vor allem zu Propagandazwecken. „Wir beobachten, dass gezielt junge Frauen über soziale Netzwerke angeworben werden“, so ein Sprecher des Bundesamts für Verfassungsschutz. Wer einmal in Syrien ist, kommt nicht mehr zurück: Frauen müssen sofort ihre Pässe abgeben.

Massenhysterie vor dem Elternhaus

Nach der Verzweiflungstat des Vaters hatten sich Sonntagabend mehr als 200 trauernde Menschen in der Geesthachter Innenstadt versammelt. Da etliche von ihnen kollabierten, wurde ein Großalarm des Rettungsdienstes ausgelöst, etwa 50 Ärzte und Sanitäter waren an der Rathausstraße im Einsatz.

Im Zimmer von Ece fand die Polizei salafistische Literatur und Notizen zur bevorstehenden Abreise. Auch ihre Mutter hatte das Drama nicht verhindern können, sie soll erst am Sonntag von einer Kur zurückgekommen sein.

( bz )

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