Rosengarten-Nenndorf. Diese kleine Hundedame ist ein großes Wunder: Fly kann Leben retten. Auch wenn sie auf den ersten Blick nicht so aussieht – die Chihuahua-Hündin ist ein Assistenz- und Warnhund und hilft ihrer Halterin durch den oftmals beschwerlichen Alltag. Flys „Frauchen“ Daniela Krohn ist zu 100 Prozent schwerbehindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie leidet an verschiedenen lebensbedrohlichen Krankheiten, weshalb ihre kleine Hündin eine große Stütze für sie darstellt.
Fly ist ein Multitalent. Sie warnt Daniela Krohn vor drohenden epileptischen Anfällen, indem sie diese oft mehreren Stunden im Voraus durch Ablecken der Handgelenke anzeigt. Und das ist längst nicht alles: Die lebhafte Hündin warnt ihre Besitzerin auch vor einem diabetischen Schock. Wenn es gefährlich wird, hechelt oder bellt sie so lange, bis ihre Warnung bemerkt wird.
Außerdem hat der Chihuahua gelernt, bei Bedarf einen Notfallknopf zu drücken oder eine Medikamententasche zu bringen. Und der kleine schlaue Hund unterstützt seine Halterin ganz praktisch beim Ausziehen der Socken und anderen Alltagstätigkeiten.
Chihuahua-Hündin Fly hat eine spezielle Ausbildung durchlaufen
Fly wurde in einer speziellen Hundeschule namens „Adlatus Dogs“ zum Warn- und Assistenzhund ausgebildet. Das Unternehmen mit Sitz in Schleswig-Holstein wurde von Sylvia Gerdes gegründet. Sie bildet seit mehr als 40 Jahren Hunde aus und ist mit ihrem Team in ganz Norddeutschland aktiv.
Gerdes hat sich auf die Schulung von Assistenz- und Warnhunden spezialisiert. „Um Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu unterstützen und ihnen durch die Zusammenarbeit mit diesen wunderbaren Vierbeinern mehr Sicherheit und Unabhängigkeit zu bieten“, wie sie sagt.
Vor-Ort-Termin auf einem Hundetrainingsplatz in Nenndorf
Wir stehen auf einem Hundetrainingsplatz in Nenndorf. Hier bilden Gerdes und ihre Mitarbeiterin Stefanie Klemme regelmäßig Hunde für ihre anspruchsvolle Aufgabe aus. Heute geht es um die „begleitete Selbstausbildung“. Das bedeutet, dass Hundebesitzer gemeinsam mit ihren eigenen Assistenzhunden trainieren. Mensch und Hund werden dabei zu einem eingespielten Team geformt.
Wie Michelle Vöge und ihr Hund Sky. Der Labrador ist seit zwei Monaten in der Familie, weil sich bei Vöges vierjährigem Sohn Tyler Typ-1-Diabetes entwickelt hat. Sky ist ein Warnhund und in der Lage, Veränderungen im Körper von Tyler wahrzunehmen. Menschen mit Diabetes-Typ-1 haben einen Mangel an Insulin, einem Hormon, das den Blutzuckerspiegel reguliert. Sky kann die damit verbundene Veränderung der Sauerstoffsättigung erkennen – nicht über den Geruchssinn, wie man vermuten könnte, sondern übers Gehör.
Labdador Sky erkennt, wenn mit dem zuckerkranken Tyler etwas nicht stimmt
„Sie warnt uns, bevor Tyler über- oder unterzuckert“, sagt Michelle Vöge. Einmal habe sie der Hund nachts geweckt, weil mit Tylor etwas nicht stimmte. „Die Technik, die seinen Blutzuckerwert außerdem überwacht und regelmäßig auf mein Handy schickt, hatte sich da noch nicht gemeldet“, berichtet die Mutter. Mit Sky habe die Familie nun eine doppelte Sicherheit. „Der Hund passt ideal in unsere Familie und ist eine große Bereicherung für uns alle“, so Vöge.
Auch für Familie Roepke, die aus dem Alstertal zum Hundetraining nach Nenndorf gekommen ist, wurde das Leben mit dem Einzug der Collie-Hündin Tara endlich leichter. Sohn Adrian hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Der Zwölfjährige ist Epileptiker und musste wegen seiner plötzlich auftretenden Anfälle schon viele kritische Situationen und Krankenhausaufenthalte überstehen. Bei einem Anfall krampft er am gesamten Körper und droht, das Bewusstsein zu verlieren. Tara spürt die neurologischen Veränderungen schon im Vorfeld und zeigt den drohenden Anfall an.
Collie-Hündin Tara warnt vor epileptischen Anfällen
„Durch diese frühzeitige Warnung kann Adrian rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um sich in Sicherheit zu bringen oder medizinische Hilfe zu suchen“, erklärt seine Mutter Doro Roepke. Seit der Warnhund zur Familie gehört, hätten sich die epileptischen Anfälle bei Adrian zudem drastisch reduziert. „Um etwa 70 Prozent“, sagt Doro Roepke.
Das sei ein häufiges Phänomen: „Warnhunde sind nicht nur lebensrettende Begleiter, sondern auch emotionale Unterstützung für ihre Besitzer. Sie schenken ihnen Sicherheit, Vertrauen und verbessern ihre Lebensqualität erheblich“, sagt Sylvia Gerdes. Assistenzhunde seien weit mehr als „hoch dressierte Dienstleister: Sie geben Trost, leisten ihren Besitzern Gesellschaft und können helfen, Stress abzubauen, Angstzustände zu lindern und das allgemeine Wohlbefinden zu verbessern“, so Gerdes.
Zwischen Mensch und Hund entsteht eine besondere Beziehung
Die besonderen Vierbeiner können das Leben vieler Menschen maßgeblich verbessern, meint auch Assistenzhundetrainerin Stefanie Klemme: „Diese treuen Begleiter bieten Unterstützung und Unabhängigkeit für Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen.“ Klemme arbeitet seit vier Jahren bei Adlatus Dogs – ein Job, der eine gründliche Ausbildung, medizinisches Wissen, viel Geduld und eine große Empathie für Mensch und Hund erfordert.
Das Adlatus-Dogs-Team bildet neben dem begleitenden Training auch Hunde zu fertigen Assistenz- und Warnhunden aus und übergibt sie erst nach der notwendigen offiziellen Prüfung zur Anerkennung ihrer Fähigkeiten an die neuen Besitzer. „Das ist bei aller Professionalität für uns nicht immer ganz einfach“, sagt Sylvia Gerdes. „Während der intensiven Zusammenarbeit entwickelt sich schon eine enge Beziehung zu den Tieren.“
Längst nicht alle Hunde eignen sich für diese verantwortungsvolle Aufgabe
Mit einem speziellen Ausweis und einer Weste, die sie im Einsatz tragen, können die geprüften Hunde als Assistenzhunde identifiziert werden und dürfen ihre Menschen auch dorthin begleiten, wo Hunde ansonsten nicht erlaubt sind. Assistenzhunde helfen Menschen mit eingeschränkter Mobilität zum Beispiel beim Einkaufen, sie können Gegenstände greifen und bringen, Türen öffnen oder ihre Menschen beim Gehen unterstützen.
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Sylvia Gerdes züchtet zudem selbst Hunde mit dem Ziel, möglichen Nachwuchs zu erhalten. Denn längst nicht alle Hunde eignen sich für eine solch verantwortungsvolle Aufgabe und können die dafür benötigten Fähigkeiten erlernen. Hundeexpertin Gerdes nimmt viele Welpen unter die Lupe und erkennt deren potenzielle Eignung durch umfangreiche, spielerische Tests. Ist ein Talent entdeckt, beginnt eine sanfte, aber intensive Ausbildungsphase.
Krankenkassen zahlen mit Ausnahme von Blindenführhunden nicht für Assistenzhunde
Die bekanntesten Assistenzhunde sind die Blindenführhunde. Sogenannte Signalhunde unterstützen Menschen mit Hörbeeinträchtigungen, während Mobilitätshunde häufig Menschen im Rollstuhl oder mit anderen Einschränkungen in der Beweglichkeit begleiten. Bei „Adlatus Dogs“ liegt ein Fokus außerdem auf der Ausbildung von Warn- und Assistenzhunden für psychosoziale Beeinträchtigungen.
Unter diesem Begriff werden Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Autismus oder Demenz zusammengefasst. „In diesem Spektrum ist es für Außenstehende schwieriger zu erkennen, warum jemand einen Assistenzhund benötigt. Aber auch in diesem Bereich können unsere Hunde wertvolle Hilfestellung leisten“, sagt Gerdes.
Ein fertig ausgebildeter Assistenzhund kostet etwa 25.000 Euro
In Deutschland besteht kein gesetzlicher Anspruch auf einen Assistenzhund – mit Ausnahme des Blindenführhundes. Daher werden von den gesetzlichen Krankenkassen in der Regel keine Kosten übernommen. Derzeit gibt es Bestrebungen, dies zu ändern. Doch aktuell müssen alle Ausgaben von den Interessenten selbst getragen oder über Spenden finanziert werden.
Für einen bereits ausgebildeten Assistenzhund müssen etwa 25.000 Euro investiert werden. „Das ist viel Geld, aber die Sicherheit unseres Jungen war es uns wert“, sagt Michelle Vöge. Auch sie habe von der Anschaffung des Hundes profitiert: „Seit Sky bei uns ist, kann ich endlich wieder schlafen.“
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