Usedom

Karlshagen: Wehe, wenn ein Zug kommt

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Hanna-Lotte Mikuteit

Foto: picture-alliance

Ein Fotograf entdeckt einen der gefährlichsten Bahnübergänge im Norden. Die Geschichte eines Kampfes mit der Bahnbürokratie.

Karlshagen/Hamburg. Es war ein Reflex. Der Hamburger Fotograf Mike Adam Mathèis war mit dem Auto auf Usedom unterwegs, als er auf einem Bahnübergang in Karlshagen einen Radfahrer mit Kinderanhänger stehen sieht. "Ich habe noch gedacht: Was macht der da?" In diesem Moment ertönt der lange Pfeifton eines nahenden Zuges. "Da erst ist mir klar geworden, dass der Mann festsaß. Im wahrsten Sinne des Wortes", erinnert sich Mathèis. Eine Frau habe schon auf der anderen Seite gestanden, aber die rot-weißen Absperrgitter an dem Übergang seien so eng gewesen, dass der Mann mit seinem Anhänger nicht habe durchkommen können. In Panik stößt er sein Rad nach vorn. Helfen kann Mathèis dem Mann nicht, er ist zu weit vom Bahnübergang entfernt. Ihm bleibt nur die Zeit, seine Kamera mit dem Teleobjektiv in die Hand zu nehmen.

Der Mann hebt das schwere Gespann hoch. Foto. Und wirft es fast über die Gitter. Foto. Dann kommt die Bahn. Der Fotograf drückt noch mal auf den Auslöser. "Ich hatte wirklich Angst, dass er es nicht schafft." Als er die Kamera senkt, sieht er den Mann hinter der Sperre stehen, neben dem Anhänger mit dem Kind. In Sicherheit und unversehrt. "Ich war unglaublich erleichtert", sagt Mathèis. Der Radfahrer habe gezittert, war zutiefst erschrocken und wütend. Dann sei er weitergefahren.

Auch Mathèis setzt sich an jenem 23. Juni wieder in seinen Wagen, aber der Vorfall lässt ihm keine Ruhe. Später stellt er fest, dass zwischen den entscheiden Aufnahmen gerade mal elf Sekunden lagen. "Da war für mich klar, wie leicht dieser Bahnübergang zu einer tödlichen Falle hätte werden können."

Er beschließt zu handeln - und wird überall abgewimmelt. Aber der Fotograf lässt nicht locker. Inzwischen sieht es nach Recherchen des Abendblatts so aus, als könnte seine Fotodokumentation dazu führen, dass sich an dem Bahnübergang doch etwas ändert.

Aber der Reihe nach. Zurück in Hamburg, wendet Mathèis sich an die Usedomer Bäderbahn, die die Strecke betreibt. Wie es denn sein könne, so seine Frage, dass die Sperre an dem Bahnübergang in einem Urlaubsgebiet so konstruiert sei, dass sie für Fahrräder mit Anhänger unpassierbar sei. "Die wollten sich nicht äußern, haben mich an die Deutsche Bahn verwiesen." Dorthin schickt der gebürtige Bayer, der jetzt auf Finkenwerder lebt, seine Fotoserie als Nächstes. Die Antwort aus Berlin kommt schnell. Auf den Fotos sei klar und deutlich eine - so der Bahn-Jargon - Umlaufsperre zu erkennen, schreibt ein Bahnsprecher kurz und bündig zurück. Diese sei regelgerecht gebaut und für Bahnstrecken mit übersichtlichen Verhältnissen vorgesehen. "Im konkreten Fall hätte der Fahrradanhänger vom Fahrrad getrennt werden müssen. Fahrrad und Fahrradanhänger hätten dann separat über den Überweg geschoben werden müssen."

Tatsächlich, das geht aus einem weiteren mehrseitigen Schreiben hervor, das dem Abendblatt vorliegt, geben die geltenden Bestimmungen der Bahn recht. Der Radfahrer habe sich rechtswidrig verhalten, so ein weiterer Bahnmitarbeiter. Es handele sich in Karlshagen um eine u-förmige Umlaufsperre, die aus den 1970er-Jahren stamme, führt er aus. "Grundsätzlich sollen Fahrradfahrer durch eine Umlaufsperre zum Absteigen und Schieben des Fahrrads veranlasst werden. Deshalb sind die Durchfahrmaße eng gehalten und haben sich seit Jahren bewährt. Die in der DIN 18024-1 festgelegten Bewegungsflächen werden deswegen unterschritten." Eine bauliche Veränderung sei nicht vorgesehen. "Benutzer solcher Gefährte müssen auf die L 264 ausweichen und dementsprechende Umwege in Kauf nehmen."

"Das ist völliger Blödsinn. Die nächste Bahnschranke ist drei Kilometer entfernt. Das macht kein Radfahrer", sagt Mathèis. Man müsse sich fragen, wie realitätsfern die Bahn sei. "Muss erst ein Unglück passieren, bevor etwas verändert wird? Schließlich gibt es an dem Übergang nicht einmal ein Warnschild", sagt Mathèis. Inzwischen war es Mitte Juli. Und vielleicht hätte er die Sache da auch aufgegeben, wäre ihm nicht ein paar Tage später ein Brief der Bundespolizei ins Haus geflattert, die inzwischen in der Sache ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte - wegen eines "gefährlichen Ereignisses an Bahnkilometer 9,512". Man bitte ihn um eine schriftliche Stellungnahme, damit der Fall untersucht und die technische Sicherheit überprüft werden könnten.

Denn, was Mathèis zunächst nicht wusste, der Bahnübergang ist schon lange ein Problem. "Bei uns gibt es immer wieder Beschwerden", sagt die Karlshagener Bürgermeisterin Marlies Seiffert dem Abendblatt. Mehrfach schon habe sie das Thema an den entscheidenden Stellen angesprochen - bislang ohne Erfolg. "Es heißt dann immer, die Absperrung entspricht den Vorschriften", sagt die Politikerin, "aber was nützt das, wenn sie nicht mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmt." In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Radler mit Kinderanhängern stark gestiegen, und auch Rollstuhlfahrer könnten den Übergang nicht passieren. "Dann muss man das doch ändern."

Inzwischen hat auch die Bundespolizei noch einmal gemessen. "Wir haben festgestellt, dass die Sperre der Eisenbahn-Richtlinie 815.0030 entspricht", sagt Siegfried Dreßler, Sprecher der Bundespolizei Pasewalk. "Da ist also nichts zu beanstanden."

Trotzdem kommt der ermittelnde Beamte zu einem anderen Schluss als die Deutsche Bahn. In seinem Bericht an das für die Betriebserlaubnis von Bahnübergängen zuständige Eisenbahnbundesamt in Bonn macht er zwei Vorschläge. Kurzfristig solle ein Schild an dem Übergang aufgestellt werden, das die Radfahrer darauf hinweist, dass sie absteigen müssen. Außerdem, so Polizeisprecher Dreßler, regt er dringend einen Termin an der Gefahrenstelle mit Experten von Eisenbahnbundesamt, Bundespolizei und Bahn an.

Für Fotograf Mathèis ist dies ein Sieg über die Bahn-Bürokratie, denn das Eisenbahnbundesamt reagierte. "Nachdem der Bericht bei uns eingegangen war, haben wir die Bahn aufgefordert, die Gefahr zu beheben", sagt Sprecherin Heike Schmidt auf Anfrage. Konkret: Ab sofort müssen die Züge an dieser Stelle deutlich langsamer fahren. Außerdem muss die Bahn jetzt schnell einen Vorschlag machen, welche Veränderungen sie vornehmen will, um den Übergang sicher zu machen. Mike Adam Mathèis will jetzt erst einmal abwarten. "Aber ich stehe in den Startlöchern, wenn nichts passiert."

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