Geologie: Der Kalk stammt aus der Betondecke

Tropfsteinhöhle unter den Landungsbrücken

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Angelika Hillmer

Unter Verkaufsstellen für Hafenrundfahrten und Ständen mit Fischbrötchen entstand in den vergangenen 30 Jahren ein steinernes Kunstwerk. Das Abendblatt besuchte es.

Der Einstieg in Hamburgs Tropfsteinhöhle ist unbequem: Steigeisen führen durch einen Schacht mit dem Durchmesser eines Sieldeckels in die Unterwelt der Hafenpromenade an den Landungsbrücken. Hier unten ist es feucht, dunkel, öde. Doch im Licht der Scheinwerfer leuchten plötzlich weiße Zapfen, die wie steinerne Gardinen von der Betondecke herabhängen. Und am Boden wachsen die rundlicheren Gegenstücke, so, wie es sich für eine Tropfsteinhöhle gehört. Fast stolz präsentiert Dr. Olaf Müller, in Hamburg für die Hochwasserschutzbauten zuständig, die formschönen steinernen Gewächse. "Das hier ist zwar eine künstliche Höhle, und der Kalk stammt nicht aus natürlichem Gestein, sondern aus der Betondecke der Landungsbrückenpromenade, aber unsere Stalaktiten und Stalagmiten können sich durchaus sehen lassen."

Anno 1969 ließ die Stadt die Promenade bauen, die wie eine Brücke konstruiert ist: Auf der Landseite steht sie auf dem Geesthang, auf der Flussseite bildet ein Betonschild Schutz gegen Hochwasser. So entstand unterhalb der Promenade ein Hohlraum, in dem seit 20 bis 30 Jahren die Tropfsteine wuchsen. Dies sei für das Bauwerk kein Problem, versichert Müller: "Wir haben 1996 die ganze Promenade noch einmal verstärkt und die alte Konstruktion überbaut. Darum hat der ausgewaschene Kalk auch langfristig keinen Einfluss auf die Statik."

Stattdessen wachsen unterhalb von Fischbrötchenauslagen und Hafenrundfahrts-Verkaufsstellen klammheimlich steinerne Kunstwerke. "Säuerliches Regenwasser ist durch Fugen und Risse in den Beton eingedrungen und hat den Kalk gelöst. Wenn das Wasser den Hohlraum erreicht und mit Luft in Kontakt kommt, fällt der Kalk, chemisch Kalziumkarbonat, wieder aus", erklärt Prof. Christian Betzler, Geologe an der Uni Hamburg. Er zeigt auf einen Stalaktiten, der wie ein Makkaroni-Röhrchen von der Decke herabhängt: "Der Kalk lagert sich ringförmig ab, deshalb kommt es zu ähnlichen Strukturen wie bei den Jahresringen von Bäumen. Die Spitze des Stalaktiten ist auf mehreren Zentimetern hohl. Hier wächst das Gestein; erst später lagert sich außen und innen weiterer Kalk an."

Hunderte solcher Gebilde hängen von der Betondecke herab, wie Eiszapfen an Regenrinnen. Die Tropfsteine sind nicht wie die wässrigen Zapfen innerhalb weniger Tage entstanden, aber gemessen an dem biblischen Alter der Stalaktiten und Stalagmiten in natürlichen Höhlen von vielen Zehntausend Jahren sind sie in Zeitraffer gewachsen: Die Höhlenvarianten legen in 100 Jahren vielleicht einen Zentimeter zu; die wackeren Kalkzapfen der Landungsbrückenpromenade schafften in einem Vierteljahrhundert bis zu einen halben Meter. Zumindest einige. Viele Stalaktiten brechen vorher ab, davon zeugen Hunderte Bruchstücke auf dem Boden. Erschütterungen durch vorbeifahrende Lkw oder U-Bahnen mögen daran ihren Anteil haben.

Das Wachstum von Tropfsteinen hängt von verschiedenen Faktoren ab, etwa von der Konzentration des im Wasser gelösten Kalks, von der Menge des herabtropfenden Wassers, von der Temperatur und dem Gehalt an Kohlendioxid (CO2) im Hohlraum. Denn das Gestein wächst weniger durch die Verdunstung von Wasser, sondern hauptsächlich durch die Abgabe von CO2 an die Luft. Allerdings gelingt es durch chemische Tricks, Tropfsteine noch viel schneller wachsen zu lassen als an der Hamburger Waterkant: Chemiker der Universität Koblenz-Landau ersetzten das Kalzium durch Barium und erzeugten an nur einem Tag ein sechs Zentimeter langes Röhrchen. Um Gesteinswachstum im Unterricht zeigen zu können, setzten sie noch eins drauf, ließen eine Zinksulfatlösung in Ammoniakgas tropfen: Stalaktit und Stalagmit wuchsen binnen einer Viertelstunde zu einer sechs Zentimeter großen Tropfsteinsäule (Stalagnat) zusammen. Die natürliche Langsamkeit verschafft aber mehr wissenschaftliche Erkenntnisse. So rekonstruierten israelische Forscher aus den Kalkgebilden der Soreq-Höhle Klimadaten der vergangenen 58 000 Jahre. Dazu untersuchten sie das jeweilige Verhältnis der atomaren Varianten des Kohlenstoffs C12 zu C13 sowie der Sauerstoff-Isotope O16 zu O18. Spezielle Mengenverhältnisse der stabilen Isotope kennzeichnen bestimmte Temperaturen und Niederschlagsmengen.

So weit wird es in der 170 Meter langen künstlichen Höhle an den Landungsbrücken natürlich nicht kommen - bei Betonbauwerken wird mit Standzeiten von 80 bis 100 Jahren gerechnet. Das ist in der Geschichte des Klimas nicht mehr als ein Wimpernschlag.

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