Europäische Union

Als es Tag wurde im Abendland

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Thomas Frankenfeld

Europa war Ausgangspunkt der schlimmsten Kriege, aber auch der segensreichsten Erfindungen. Und Europa gibt der Welt ein Beispiel für die unwiderstehliche Kraft von Bündnissen.

Hamburg. Für die lichtdurchfluteten Zivilisationen im antiken Mittelmeerraum und dem Zweistromland, für Akkader, Phönizier und Hebräer, waren die düsteren Waldregionen nördlich des Meeres einfach "ereb" - dunkel, dem Sonnenuntergang zugehörig, im wahrsten Sinne des Wortes ein "Abend-Land".

Über das Griechische soll aus ereb der Name "Europa" entstanden sein. Das Wort wird etymologisch nun gedeutet als "Frau mit der weiten Sicht". Eine sagenhafte phönizische Königstochter hieß Europa; sie wurde von Göttervater Zeus in Gestalt eines Stieres verführt.

Doch bis Europa politisch weitsichtig wurde, sollte es noch Jahrtausende dauern. Europa sollte gewaltige Reiche, wie das Römische, das spanische, das britische und, ja, auch das deutsche, entstehen und vergehen sehen. Beide Weltkriege hatten auf diesem Kontinent, der doch eigentlich nur ein Zipfel der gigantischen eurasischen Landmasse ist, ihren Ursprung. Auch der entsetzliche 30-jährige Krieg tobte hier; und es gibt Historiker, die alle drei Waffengänge als "europäische Bürgerkriege" werten.

Geografisch ist Europa nicht wirklich präzise zu definieren; die Festlegung auf das Ural-Gebirge in Russland als östliche Grenze zu Asien ist eher willkürlich. Jene rund 10,5 Millionen Quadratkilometer, die durch diese Kartierung umrissen sind - eine Fläche, immerhin größer als die USA -, umfassen einen kulturellen Reichtum, eine Vielfalt an Völkern, Sprachen, Traditionen, verbunden mit einem unbändigen Schöpfer- und Erfindergeist, wie es sie kaum ein zweites Mal auf diesem Globus gibt.

Europa - das ist Bach und Mozart, Händel, Beethoven und Grieg, das ist Monet, da Vinci, van Gogh und Rembrandt, das ist Shakespeare und Goethe, Michelangelo und Rodin. Was die europäischen Museen beherbergen - wie der Louvre in Paris, der Prado in Madrid, die Petersburger Eremitage oder die Berliner Museumsinsel -, gehört zum kostbarsten Kulturgut der Erde.

In Europa stehen die gotischen Kathedralen - nicht nur eine steinerne Preisung Gottes, sondern auch einer weltweit einzigartigen Leistung in Architektur und Baukunst. Und hier erhebt sich auch der gewaltige Petersdom, architektonisch und geistlich ein Nabel der christlichen Welt.

Und dann die Erfindungen: Was Briten, Franzosen, Deutsche, Italiener, Holländer und viele andere Europäer entwickelten - unter anderem das Auto, das Düsenflugzeug, die Weltraumrakete, das Telefon, den Computer -, haben die Entwicklung der menschlichen Zivilisation maßgeblich vorangetrieben. Auch die wichtigste Erfindung der letzten tausend Jahre, die Grundlage der modernen Zivilisation, wurde in Europa gemacht: 1997 kürte das einflussreiche amerikanische "Time Magazine" einen gewissen Johann Gensfleisch zum bedeutendsten "Mann des Jahrtausends". Der Mainzer, besser bekannt unter dem Namen Gutenberg, entwickelte um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Damit wurde die Massenkommunikation samt Büchern und Zeitungen erst möglich - mit ungeheuren Konsequenzen für die Entwicklung des Wissensstandes und des sozialen Gefüges der gesamten Welt. Lesen bedeutet Wissen - und dieses wiederum ist Voraussetzung für die geistige und politische Emanzipation des Menschen.

Das Lesen von Büchern und Schriften wiederum ermöglichte einen Beitrag Europas, der zu den herausragenden geistesgeschichtlichen Leistungen der Menschheit zählt: die Aufklärung. Was Denker wie René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant im 17. und 18. Jahrhundert formulierten, fußend auf Errungenschaften der Renaissance und der Reformation, war nicht weniger als die Befreiung des Menschen von der Knechtschaft jahrhundertealter Dogmen. Zum ersten Mal wurde der Mensch aufgefordert, sein Denken selber zu bestimmen und damit letztlich die Ketten von Adel und Klerus zu sprengen. Kants "Kategorischer Imperativ" ("Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte") war eine revolutionäre Absage an die selbstsüchtigen Machtinteressen von Tyrannen.

Doch noch war Europa nicht reif für die politische Umsetzung seiner eigenen Ideen. Sie wurden in die Neue Welt exportiert und dort mit viel Dynamik und Pragmatismus umgesetzt. Die ursprünglich europäischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung wurden zum Grundbekenntnis der jungen USA - und fanden dann als geistiger Reimport ihren Weg nach Europa zurück.

Man fragt sich, warum es den Amerikanern gelang, diese Revolution binnen weniger Jahrzehnte zu vollenden, während die Europäer noch weitere eineinhalb Jahrhunderte dafür benötigten. Nun, weil es Rebellen, Querdenker und Kreative waren, die sich vom Alten Kontinent auf den Weg in die Neue Welt gemacht hatten. Menschen, die das Joch geistiger und politischer Unterdrückung durch Auswanderung abschüttelten. Sie hatten genug vom ungerechten Ständesystem Europas, von den in Selbstgefälligkeit und Machtritualen erstarrten Erbdynastien und Wirtschaftseliten.

Dieses alte Europa ging erst in den beiden Weltkriegen unter. Erst das sinnlose Sterben von ganzen jungen Generationen, erst der industrielle Mord an Minderheiten wie den Juden ließ den Kontinent aufwachen und endlich den Wert von Frieden und Toleranz erkennen.

"Wenn - was wir hoffen - sich genügend Europäer in Europa finden, das heißt Menschen, denen Europa nicht nur ein geografischer Begriff ist, sondern eine wichtige Herzenssache, so wollen wir versuchen, einen Europäerbund zusammenzurufen", hatte Albert Einstein bereits im Oktober 1914 geschrieben - noch vor den beiden europäischen Katastrophen.

Was dann nach 1945 in Europa wuchs und nach 1989 noch einmal neue Dynamik erhielt, ist - bei allen Unzulänglichkeiten und Rückschlägen - eine Erfolgsgeschichte, wie sie die Welt bislang kaum jemals gekannt hat. Die Europäische Union, die sich von 1951 an aus einem bescheidenen Abkommen von sechs Ländern über die profane Nutzung von Stahl und Kohle zu einem Staatenbund mit einer halben Milliarde Einwohnern entwickelte, ist ein Vorbild für andere Weltregionen in Sachen Aussöhnung, Toleranz, Menschenrechte, Demokratisierung und wirtschaftlicher Entwicklung.

Sehnsüchtig schaut das blutende, zerrissene Afrika auf die EU und hat die Gründungsakte seiner neuen Afrikanischen Union klar auf das europäische Vorbild abgestellt. Verblüfft verfolgt man in den Krisenzonen der Welt vom Kongo bis zum Jordan, wie die einstigen "Erbfeinde" Deutschland und Frankreich Schulter an Schulter den Kern der Europäischen Union bilden, wie sie gar ihre Streitkräfte teilweise verschränkt haben und Auslandsvertretungen gemeinsam betreiben.

Doch was gab dem Schriftsteller Fjodor M. Dostojewski, aus verarmtem russischen Adel stammend, den Mut, bereits im 19. Jahrhundert zu formulieren: "Die Idee der universalen Einigung der Menschen ist die Idee der Menschheit Europas, ihr verdankt sie ihre Zivilisation, für sie allein lebt sie"?

Es war reines Wunschdenken damals, in einem Jahrhundert, in dem Europa zwar die führende Wirtschaftskraft der Welt war - die Industrielle Revolution hatte in Großbritannien ihren Ausgang genommen -, sich aber in vielen Kriegen zerfleischte.

Doch heute hat Europa die USA als Leuchtfeuer der zivilisatorischen Hoffnung in den Augen vieler Menschen abgelöst - was allerdings nicht nur Ergebnis der Stärke Europas, sondern zuletzt auch der Schwäche Amerikas aufgrund der unheilvollen acht Bush-Jahre ist.

Doch auch wirtschaftlich ist die EU enorm erfolgreich. Wer sich noch vor 20 Jahren getraut hätte vorauszusagen, das europäische Airbus-Konsortium werde bald mehr und zudem technologisch weiterentwickelte Verkehrsflugzeuge verkaufen als der US-Gigant Boeing, wäre wohl mit Hohngeschrei bedacht worden.

Und wer hätte vor zehn Jahren die Prognose gewagt, die Gemeinschaftswährung Euro werde neben dem Dollar zur wichtigsten Währung der Welt aufsteigen und dabei preisstabiler bleiben als die alte D-Mark?

Wer hätte damals sagen können, dass ausgerechnet in Finnland, dem zu 86 Prozent bewaldeten, dünn besiedelten Land am Polarkreis, der weltweit größte Hersteller von Mobiltelefonen mit einem Anteil von 38,6 Prozent entstehen würde? Der US-Konkurrent Motorola bringt es gerade einmal auf 8, 7 Prozent. Die 27 Staaten der Europäischen Union erwirtschaften inzwischen das größte Bruttoinlandsprodukt der Welt - größer als das der 50 US-Bundesstaaten.

Die Erfolgsgeschichte Europas hat allerdings auch ihren Preis. Als wirtschaftliche Großmacht ist die EU zwangsläufig ein "Global Player", ist aufgerückt in die exklusive Runde der Schwergewichtsmeister. Damit ist zugleich politische Macht verbunden - die militärisch abgesichert werden muss. Die USA, China, Indien und Russland etwa schmieden permanent an ihrer Bewaffnung; Europa hat sich bislang zu einer gemeinsamen Armee nicht durchringen können.

Zwar verfügen die Staaten der EU zusammengerechnet sogar über mehr aktive Soldaten als die USA mit ihrer 1,4 Millionen Köpfe starken Armee, doch die Schlagkraft liegt nur bei einem Bruchteil der amerikanischen. Europa steht hier vor einer weitreichenden Entscheidung.

Allein mit "Soft Power" - der europäischen Spezialität, einem Schwerpunkt auf diplomatischer und ziviler Kompetenz - wird der Alte Kontinent den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auf Dauer kaum mehr gerecht werden können. Der EU-Einsatz zur Absicherung der Wahlen im Kongo im Jahre 2006 zum Beispiel, aber auch die laufende Anti-Piraten-Mission "Operation Atalanta" sind Anzeichen dafür, dass Europa bereit ist, weltweit mehr Verantwortung zu übernehmen.

Doch noch immer ist das Misstrauen der Europäer gegenüber der politischen Verwaltung der Union groß. Sie sei eine Molkereigemeinschaft mit dem einzigen Ziel, die deutsche Kuh zu melken, hieß es hierzulande schon über den EU-Vorgänger Europäische Gemeinschaft (EG).

"Wasserkopf" heißt es anklagend angesichts der 27 000 Bediensteten der Brüsseler EU-Kommission. Die EU-Verwaltung sei wie ein Tintenfisch - sie strecke zahllose gierige Arme aus und sei innen nur mit Tinte gefüllt. Es ist ein unfairer Vorwurf - allein die Stadt Wien beschäftigt inklusive der Krankenhäuser rund 65 000 Personen. Und bei der Stadtverwaltung Köln sind es immerhin 17 000 Bedienstete. Brüssel ist allerdings für einige Menschen mehr zuständig als diese Städte - nämlich für 495 Millionen Menschen.

Und es könnten noch mehr Menschen werden: Ukrainer, Israelis, Türken. Befürchtungen wachsen, dass eine Erweiterung über die klassischen Grenzen Europas hinaus die Integration überfordern könnte. Deren bisherige, Frieden und Wohlstand stiftende Leistung ist einzigartig. Die Erfolgsgeschichte Europas ist die historische Entsprechung des europäischen Mythos vom Vogel Phönix: Der war in Flammen aufgegangen, um am Ende strahlend neu zu entstehen.

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