Experten werfen ukrainischer Armee und Separatisten vor, die geächtete Munition eingesetzt zu haben

Donezk. Die ukrainische Armee soll im Kampf um die von prorussischen Separatisten besetzte Stadt Donezk im Osten des Landes Streubomben eingesetzt haben. Das berichtet die „New York Times“ unter Berufung unter anderem auf Zeugen und Opfern. Streubomben zerteilen sich vor dem Aufprall in viele kleinere Sprengsätze, sogenannte Bomblets. Sie verminen damit ganze Landstriche. Vor allem Kinder werden oft auch noch Jahre nach dem Abwurf zu Opfern, wenn die Munition explodiert.

Der Einsatz der Bomben ist international geächtet. Die Einschlagstellen von Raketenangriffen am 2. und 5. Oktober zeigten deutlich, dass Streumunition von Territorium abgefeuert worden sei, das von der ukrainischen Armee gehalten wird, berichtet die Zeitung. Dorfbewohner hätten auch Raketen mit Bomblets in ihren Feldern gefunden. Bei den Angriffen wurde den Angaben zufolge ein Schweizer Mitarbeiter des Roten Kreuzes getötet. Sechs Menschen seien verletzt worden. Zwischen dem ukrainischen Militär und den Separatisten herrscht seit einem Monat offiziell eine Waffenruhe, die aber immer wieder verletzt wird.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisierte den Einsatz der Streubomben. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass Streumunition in Wohngebieten eingesetzt wurde, besonders bei den Angriffen im frühen Oktober in Donezk“, sagte HRW-Waffenexperte Mark Hiznay. Vor allem bei Angriffen auf das Stadtzentrum von Donezk gebe es deutliche Hinweise für die Verantwortung der Regierungstruppen. In einem eigenen Bericht kommen die Menschenrechtler zum Schluss, dass Streubomben mindestens zwölfmal gegen bewohnte Gebiete eingesetzt worden sind. Die Zahl solcher Schläge könnte aber auch höher sein. Der Einsatz der geächteten Munition habe anhand typischer Einschlagskrater sowie Munitionssplitter und Resten von Trägerraketen festgestellt werden können.

Das ukrainische Militär dementierte den Einsatz von Streubomben. „Wir verwenden diese Bomben überhaupt nicht, weil sie verboten sind“, sagte Wladislaw Selesnjow von der Anti-Terror-Operation in Kiew dem Internetportal Ukrainskaja Prawda. Zudem schieße die Armee im Kampf gegen die Separatisten nicht auf Zivilisten.

Human Rights Watch beschuldigte auch die Separatisten, Streubomben eingesetzt zu haben. Beide Seiten seien schuldig, Angriffe durchgeführt zu haben, die „sich als Kriegsverbrechen herausstellen“ könnten.

Sollten sich die Berichte von „New York Times“ und HRW bestätigen, stünde die von den USA und der EU unterstützte Regierung in Kiew unter Erklärungsdruck. Auch sie wies die Vorwürfe zurück. „Diese Beschuldigungen sind unbegründet“, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Kiew. Armeesprecher hatten in der Vergangenheit betont, die Separatisten hätten Zugriff auf Raketensysteme aus Russland, mit denen sie Streumunition abfeuern könnten. Die internationale Konvention zum Verbot von Streubomben aus dem Jahr 2008 wurde von 113 Staaten unterzeichnet – nicht jedoch von der Ukraine und den USA.

Vor dem Hintergrund des Konflikts wählen die Ukrainer am Sonntag ein neues Parlament (Rada). Damit entscheidet das Volk möglicherweise indirekt mit über Krieg und Frieden. Tausende Kandidaten aus 29 Parteien bewerben sich für die 450 Sitze im Parlament, das seit der jüngsten Reform wesentlich mehr Gestaltungsmacht besitzt: Anders als unter dem gestürzten Präsidenten und Kremlverbündeten Viktor Janukowitsch können die Abgeordneten den Regierungschef sowie den Großteil seiner Minister bestimmen.

Staatschef Petro Poroschenko hatte die Rada im August verfassungsmäßig aufgelöst, weil er keine verlässliche Parlamentsmehrheit für eine stabile Regierungspolitik sah. Sein gemäßigter Block Petro Poroschenko – mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko als Spitzenkandidat – dürfte laut Umfragen stärkste Kraft werden, eine eigene Mehrheit aber verfehlen. Dann wäre Poroschenko auf die Mithilfe von Juniorpartnern angewiesen, die allesamt eine kompromisslosere Haltung gegenüber Russland befürworten.

Poroschenko will die 36,5 Millionen Wahlberechtigten überzeugen, dass nur sein umstrittener Friedensplan den Zerfall des Landes verhindern kann. Das im September mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vereinbarte Abkommen soll einen dauerhaften Waffenstillstand mit den Separatisten besiegeln und der Wirtschaft des Landes wieder auf die Beine helfen. Denn die Ukraine ist knapp ein Jahr nach der Revolution ökonomisch stark angeschlagen. Mit der Halbinsel Krim und den Kohlerevieren an der Grenze zu Russland hat sie die Kontrolle über wichtige Teile ihres Territoriums verloren, ausländische Investoren sind verunsichert. In den von prorussischen Separatisten kontrollierten Ostgebieten finden erst gar keine Wahlen statt. Die Aufständischen wollen am 2. November eigene Wahlen abhalten.

Poroschenkos Kritiker fürchten, dass er sich die Zustimmung der Separatisten mit weitreichenden Zugeständnissen für deren Selbstverwaltung teuer erkaufen und im Machtkampf mit dem Kreml letztlich unterliegen wird. Von dieser Furcht profitierten im Wahlkampf militante Russlandgegner wie die Nationalistenpartei des Populisten Oleg Liaschko, die Umfragen zufolge zweitstärkste Kraft werden dürfte.