Lettland: Gespräch mit früherer Präsidentin Vike-Freiberga

"Mir macht die Lage in Russland Angst"

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Thomas Frankenfeld

Sie ist eine Frau, deren Lebensleistung beim Normalbürger bohrende Komplexe wecken kann. Promovierte Psychologin ist sie, Professorin obendrein, sie...

Hamburg. Sie ist eine Frau, deren Lebensleistung beim Normalbürger bohrende Komplexe wecken kann. Promovierte Psychologin ist sie, Professorin obendrein, sie spricht Lettisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch und kann sich auch auf Italienisch und Portugiesisch verständigen. Elf Bücher hat sie veröffentlicht, war Sondergesandte des Uno-Generalsekretärs, den sie fast im Amt beerbt hätte. Sie übt Funktionen in diversen internationalen Organisationen aus; so ist sie stellvertretende Vorsitzende des EU-"Rats der Weisen". Und sie war von 1999 bis zum vergangenen Jahr Staatspräsidentin von Lettland. Jetzt war Vaira Vike-Freiberga wieder einmal in Hamburg. Sie liebt die Stadt, kennt sie gut als Flüchtlingskind der Nachkriegszeit; seit damals hat sie eine Schwäche für den Tierpark Hagenbeck.

Die Frau mit der sanften Stimme und dem starken Willen übte die von der lettischen Verfassung gewährten Möglichkeiten der Präsidentschaft sehr entschieden aus, setzte sich für eine klare Westorientierung und für den EU-Beitritt des Baltenstaates ein. In Hamburg war sie nun auf Einladung der rührigen Honorarkonsulin Lettlands und Senatorin h. c., Sabine Sommerkamp-Homann, die im Übersee-Club einen großen Empfang für sie gab. Viele Gäste aus Politik und Kultur kamen, darunter Konsuln aus zwei Dutzend Staaten.

Dass die EU-Verfassung gescheitert sei, sei "sehr schade", sagt Vaira Vike-Freiberga im Gespräch mit dem Abendblatt. "Wir müssen jetzt etwas tun, um einen Vertrag für Europa zu schaffen. Ich war kürzlich in Irland, und die Menschen dort sagten mir, sie hätten überhaupt nicht verstanden, was dieser Vertrag für den Einzelnen tut. Das ist ein gravierendes Problem für Europa. Wenn wir Politiker das nicht erklären können, funktioniert Demokratie nicht." Viele Menschen in Europa hätten das Gefühl, "dieses dicke Dokument habe nichts mit ihnen zu tun. Aber das hat es sehr wohl!"

Gerade in der jetzigen Zeit seien Lettlands leidvolle Erfahrungen mit Russland, die das Land in die EU einbringen könne, sehr wertvoll. "Es gibt nämlich manche Menschen im Westen, die sich Illusionen über Russland machen", sagt die frühere Staatspräsidentin und räumt ein: "Mir macht die Lage in Russland Angst. Als Präsident Medwedew in seiner ersten Ansprache über Menschenrechte gesprochen hat, weckte das noch Hoffnungen. Aber wenn ich dann höre, was er später gesagt hat - da stehen mir die Haare zu Berge!" Lebhaft sagt die Psychologin: "Stellen Sie sich mal vor: Da ist ein neuer Präsident in den Vereinigten Staaten gewählt worden, und Medwedew fordert zur Begrüßung, die USA sollten auf die Raketenabwehrstellungen in Polen und Tschechien verzichten - weil diese Staaten zur russischen Einflusszone gehörten. Das ist ein internationaler Unsinn! Wir können nicht akzeptieren, dass ein Land über ein anderes sagt: Das ist mein Einflussbereich. Wenn dies die Politik Russlands ist, dann muss die EU streng protestieren."

Ministerpräsident Wladimir Putin behaupte zudem, dass die Amerikaner in Georgien mitgemischt hätten, sagt die lettische Politikerin. "Im August war ein lettisches Fernsehteam in Georgien und hat mit russischen Soldaten gesprochen. Sie erzählten, ihre Offiziere hätten ihnen gesagt, sie kämpften gar nicht gegen Georgier, sondern gegen Amerikaner, Ukrainer und lettische Scharfschützen. So eine Desinformation!" Und wie soll man mit Russland umgehen? "Man kann mit Russland sehr wohl eine Partnerschaft eingehen, wenn sie auf denselben Prinzipien beruht", sagt Vaira Vike-Freiberga. "Man kann gemeinsam gegen den Terrorismus oder internationale Drogenkartelle vorgehen. Aber schwierig wird es, wenn es um Völkerrecht oder internationale Grenzen geht." Russland sei derzeit zwar noch keine Demokratie", sagt das lettische Multitalent, "aber das Land ist sehr wohl demokratiefähig. Natürlich gibt es dort die Mafia und Oligarchen und alle möglichen Leute, die alles getan haben, um die Situation auszunutzen. Aber es gibt dort eben auch Demokraten."

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