Siegen/Berlin. Forscher befragten 2600 Deutsche zu Sanktionen bei Hartz-IV-Empfängern. Das Ergebnis zeigt deutlich: Nicht jeder wird gleich beurteilt.

Es ist ein brisantes Thema: Wie stark sollen Menschen mit Hartz IV kontrolliert und auch sanktioniert werden? Wie viel staatliche Hilfe soll gestrichen werden, wenn ein Hartz-IV-Empfänger keine Termine beim Amt wahrnimmt? Wenn sie oder er sich nicht „ausreichend bemüht“, um einen Job zu finden?

Die Menschen in Deutschland, das zeigt eine neue Studie, würden Hartz-IV-Leistungen kürzen, wenn eine Person „keine Motivation“ zeigt, eine neue Arbeit zu finden. Auch wer Termine platzen lässt, soll weniger Geld vom Staat bekommen. Und: Wer einen ausländisch klingenden Namen hat, ist mit Vorurteilen konfrontiert. Die Deutschen kürzen einem Yildirim, Selcuk oder Abdallah schneller Hartz IV als einem Meier, Müller oder Schmidt. Auch das ist das Ergebnis einer neuen Forschung.

2600 Teilnehmende wurden befragt: Gut drei Viertel halten Sanktionen für richtig

Für das Forschungsprojekt hat das interdisziplinäre Wissenschaftsteam der Universität Siegen einen Online-Fragebogen zusammengestellt. Die rund 2600 Teilnehmenden sollten fiktive Hartz-IV-Fälle mit einer für sie angemessenen Sanktionshöhe zwischen 0 und 100 Prozent belegen.

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Mehr als 77 Prozent der Befragten halten demnach grundsätzlich eine Sanktion für Sozialleistungsbezieher innerhalb der Grundsicherung für angemessen. Dabei würden rund die Hälfte (54 Prozent) maximal 30 Prozent der Bezüge kürzen.

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Und: Rassismus und Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber Hartz-IV-Beziehern von Menschen mit einer Migrationsgeschichte sind stärker als gegenüber deutschen Langzeitarbeitslosen. Die vermutete Herkunft einer Person spielt eine Rolle, wenn Personen zu einem härteren Vorgehen gegen Hartz-IV-Empfänger befragt werden. So fielen in der Siegener Studie die fiktiven Sanktionen höher aus, wenn es um Menschen mit ausländischen Namen ging.

33 Prozent Kürzungen für Yildirim, 26 Prozent Kürzungen für Bergmann

So kürzten die Befragten einem fiktiven deutsch klingenden Herrn Bergmann bei Regelverstößen mit 26 Prozent die Leistungen durchschnittlich weniger stark als einem Herrn Yildirim mit einer Sanktionshöhe von 33 Prozent. In den wenigen Fällen, in denen Befragte die Leistungen von Beziehern komplett streichen wollten, waren die Hartz-IV-Bezieher ebenfalls häufiger Menschen mit ausländischem Namen, wie es hieß.

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„Hieraus ergibt sich eine doppelte Bestrafung für Personen, die einen ausländisch klingenden Namen haben“, sagt Studienmacher Philipp Linden. Nach Ansicht des Forschers zeige der Befund, dass es „de facto in der Bevölkerung auch diskriminierende Faktoren gibt, die das Verständnis von Hilfewürdigkeit und folglich auch von Sanktionen in der Grundsicherung beeinflussen“, so der Doktorand im Forschungsprojekt MEPYSO (Medikalisierung und Psychologisierung sozialer Probleme) der Uni Siegen.

Für viele Menschen in Deutschland der letzte Weg zur Chance auf eine Existenzsicherung: Die Arbeitsagentur
Für viele Menschen in Deutschland der letzte Weg zur Chance auf eine Existenzsicherung: Die Arbeitsagentur © dpa | Patrick Pleul

Linden hebt hervor: „Diese Erkenntnis verdient vor allem Aufmerksamkeit, weil wir zumindest nicht ausschließen können, dass Einstellungen, die Menschen mit Migrationshintergrund qua Status härter sanktionieren, auch unter den FallmanagerInnen in Jobcentern zu finden sein können.“

Rassismus in Jobcentern – neue Forschungsprojekte sollen aufklären über die Lage

In neuen Forschungsprojekten will die Gruppe laut einer Pressemitteilung der Universität um Linden genauer untersuchen, ob und inwiefern es bei den Mitarbeitenden in den Jobcentern rassistische Vorurteile und diskriminierende Einstellungen gibt – und wie sehr diese möglichen Einstellungen die Bestrafung von Hartz-IV-Empfängern etwa mit ausländisch klingendem Namen diskriminieren.

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Tatsächlich hat ein großer Teil der Hartz-IV-Empfänger in Deutschland eine Zuwanderungsgeschichte oder ist hierher geflohen. Oftmals finden Flüchtlinge etwa aus Syrien oder Afghanistan keine Arbeit. Wer keinen Aufenthaltstitel hat, darf sich ohnehin nicht sofort auf den Arbeitsmarkt bewerben. Zugleich gibt es einzelne Fälle, in denen ärmere Migranten vor allem aus Osteuropa gezielt nach Deutschland einreisen, um von Hartz-IV zu profitieren. In ihrer Heimat gibt es in der Regel schlechtere soziale Absicherungen durch den Staat.

Studienmacher Linden sagt: „Der Gesetzgeber sollte im Zuge einer anstehenden Reform der Sanktionspraxis weiterhin veränderte Rahmenbedingungen schaffen, die nicht nur extreme Eingriffe in das Existenzminimum generell verhindern, sondern die auch die LeistungsbezieherInnen vor Diskriminierung schützen: sei es nach Herkunft, Geschlecht oder Alter.“

Seit Jahren ist umstritten, wie sehr der Staat Menschen bestrafen kann, die keine Arbeit finden und sich auch nicht an der Suche nach einem neuen Job beteiligen. 2019 urteilte das höchste deutsche Verfassungsgericht, dass Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger grundsätzlich rechtens sind. Jedenfalls innerhalb eines begrenzten Rahmens.

Totalstreichung von Hartz IV ist rechtswidrig – Kürzungen bis 30 Prozent erlaubt

Wer als Arbeitsloser mehrfach ein Angebot für eine neue Stelle oder etwa eine Weiterbildungsmaßnahme durch das Sozialamt ablehnt, kann bis zu 30 Prozent seines Hartz-IV-Satzes verlieren. 2022 beträgt der Regelsatz 449 Euro im Monat, dazu kommen Beträge etwa für Kinder in Hartz-IV-Familien.

Karlsruhe: Stephan Harbarth (M), Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, spricht während der mündlichen Verhandlung über die Rechtmäßigkeit von Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht.
Karlsruhe: Stephan Harbarth (M), Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, spricht während der mündlichen Verhandlung über die Rechtmäßigkeit von Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht. © picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow

Vor dem Gerichtsurteil konnte der Staat einem Empfänger die staatlichen Hilfen sogar um bis zu 60 Prozent kürzen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte dies in seinem Urteil jedoch für rechtswidrig – genauso wie die Totalstreichung der Bezüge.

Schon in der Vergangenheit hatten Beratungsstellen für Migranten und Geflüchtete, aber auch die Menschen selbst, über Hindernisse, hohe Anforderungen und Schikanen bei Jobcentern geklagt. Der Paritätische Wohlfahrtsverband in Berlin bestätigte dem Fernsehsender rbb, dass gegen EU-Ausländer unverhältnismäßig hohe Anforderungen gestellt würden.

Eine nicht-repräsentative Umfrage unter 400 Beratungsstellen zeige „diskriminierende Praktiken von Behörden, wie der Jobcenter“, heißt es in dem Bericht. Abweisungen und Schikanen würden von Seiten der Ämter entweder gar nicht begründet, oder mit der Begründung, „ihre Deutschkenntnisse wären nicht ausreichend oder eine Dolmetschende Person wäre nicht dabei – was eindeutig rechtswidrig ist“, zitiert der rbb den Wohlfahrtsverband.

Befragte sprachen sich für Kürzungen aus, wenn Betroffene nicht motiviert sind

Das Ergebnis der Siegener Studie kommt auch deshalb nicht überraschend, weil Umfragen und Untersuchungen in der Vergangenheit immer wieder Vorurteile und rassistische Ressentiments der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Ausländern oder Menschen mit Migrationsgeschichte belegen.

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Die Nachwuchsforscher um Doktorand Linden untersuchten jedoch nicht nur, wie sich die Herkunft eines Hartz-IV-Empfängers auf die Bereitschaft zu Sanktionen durch Behörden auswirkt. Sie fanden auch heraus, dass die Befragten auch Leistungsbezieher, die wenig oder keine Motivation bei der eigenständigen Jobsuche zeigen, höher bestrafen als solche, die sich aktiv bei Firmen bewerben. Und das unabhängig vom Namen oder der Herkunft eines Sozialhilfeempfängers.

Wer den ersten und zweiten Termin im Jobcenter nicht einhielt, dem kürzten die Befragten in der Studie im Durchschnitt zwischen 17 und 29 Prozent des monatlichen Hartz-IV-Satzes. Bei älteren Sozialleistungsbeziehern und solchen, bei denen die Kündigung aufgrund einer Erkrankung erfolgte, wurde dagegen öfter auf Leistungskürzungen verzichtet.

Die neue Regierung schafft Hartz IV ab – führt aber ein „Bürgergeld“ ein

„Uns interessiert die Meinung der Bevölkerung vor allem deswegen, weil die Akzeptanz sozialpolitischer Maßnahmen bedeutsam für den sozialen Zusammenhalt und das Gerechtigkeitsempfinden ist“, erklärt Philipp Linden. Es sei für den Gesetzgeber deshalb essenziell, die Präferenzen der Bevölkerung zu kennen, wenn über die Ausgestaltung der Sanktionen entschieden werde.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l.) will ein neues „Bürgergeld“ einführen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l.) will ein neues „Bürgergeld“ einführen. © dpa | JOHN MACDOUGALL

Die neue Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP will anstelle von Hartz IV das „Bürgergeld“ einführen. Die ersten zwei Jahre, die ein Arbeitsloser das Bürgergeld erhält, bleibt das Vermögen des Betroffenen unangetastet – anders als heute wird es nicht mit den Sozialsätzen verrechnet. Auch in eine kleinere Wohnung muss der Empfänger von Bürgergeld in dieser Zeit nicht ziehen.

Die Reform solle „die Würde des und der Einzelnen achten, zu gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein“, hält die Ampel-Regierung in ihrem Koalitionsvertrag fest. Die Pflicht zur Mitwirkung an der Jobsuche bleibt bestehen. Jüngeren Hartz-IV-Empfängern will die neue Regierung mit einem „Coaching-Angebot“ helfen, sobald Sanktionen drohen. (mit epd)