Brüssel. Das EU-Parlament gibt seinen Segen zum allerletzten Vertrag über den Brexit. Dieser Schritt hat schwerwiegende wirtschaftliche Folgen.

Auch der Schlussstrich beim Brexit kommt mit riskanter Verspätung: Vier Monate ist der neue Handelspakt zwischen EU und Großbritannien schon vorläufig in Kraft, erst an diesem Dienstag wird das EU-Parlament über die Ratifizierung abstimmen – kurz bevor der Vertrag ohne Ja aus Brüssel im Mai platzt.

Die Verzögerung sagt viel über das neue frostige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien. Die Abgeordneten hatten die Entscheidung vertagt, weil Großbritannien aus EU-Sicht massiv gegen die vereinbarten Nordirland-Regelungen verstößt. Lesen Sie dazu: Endlich ein Brexit-Deal - aber warum nur so spät?

Dennoch ist der oberste Brexit-Politiker des Parlaments, David McAllister (CDU), fest davon überzeugt, dass die Abgeordneten dem Vertrag mit "überzeugender Mehrheit" zustimmen werden. Der Pakt biete eine "solide und rechtlich stabile Grundlage für unsere neue Partnerschaft", sagt der Chef des Auswärtigen Ausschusses unserer Redaktion. Doch wie läuft es bisher, wer ist Gewinner, wer Verlierer beim Brexit?

Brexit-Deal: Vorteil Großbritannien

Die Briten sind viel weiter mit der Corona-Schutzimpfung als die EU, die Hälfte der Bevölkerung hat bereits mindestens eine Spritze erhalten. Aus britischer Sicht ist der Impferfolg eine erste Frucht des EU-Austritts. Ganz korrekt ist das nicht – formal hätten die Briten auch als EU-Mitglied die Möglichkeit gehabt, auf eigene Faust Impfstoffe per Notfallzulassung freizugeben. Ob sie es gewagt hätten, ist eine andere Frage. Mehr zum Thema: Alle wichtigen Informationen zur Astrazeneca-Impfung

Der Brexit hat es London sicher leichter gemacht, was Premierminister Boris Johnson genüsslich ausschlachtet. Er bemüht sich, den Bürgern auch auf dem Feld der Außenpolitik zu demonstrieren, was die neue Eigenständigkeit bringen kann: Soeben präsentierte der Premier eine große außenpolitische Strategie, in der Kontinentaleuropa kaum eine Rolle spielt, Asien dafür eine umso größere.

Johnson plant zahlreiche Auslandsreisen, empfängt demnächst die G7-Regierungschefs zum Gipfel; ein Abkommen mit der EU über außenpolitische Zusammenarbeit lehnte er ab. Ob die Briten mit dem internationalen Solo-Trip dauerhaft gut fahren oder mittelfristig eine gefährliche Isolation riskieren, ist aber offen.

Brexit-Abkommen: Nachteil Großbritannien

Wirtschaftlich ist der Brexit erst mal kein Vorteil für die Briten, da sind sich Experten einig. Die EU-Kommission erwartet, dass die britische Wirtschaftskraft durch den Austritt in diesem und im nächsten Jahr um 2,25 Prozent geschwächt wird. Die britische Regierung schätzt die Wachstumseinbuße innerhalb eines Jahrzehnts auf vier Prozent, setzt aber langfristig auf attraktivere Handelsverträge mit Drittstaaten.

Die Exporte in die EU sind zu Jahresanfang um 40 Prozent zurückgegangen, nur langsam bessert sich die Lage. Viel größere Aufmerksamkeit richtet sich in London aber auf die Gefahr, dass das Vereinigte Königreich wegen des Brexits auseinanderbrechen könnte.

Die Nordirland-Regelung könnte dazu führen, dass eine Vereinigung der britischen Provinz mit der größeren Republik Irland wieder auf die Tagesordnung kommt: Um Warenkontrollen an ihrer Landgrenze auf der Insel zu verhindern, sollte Großbritannien solche Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs einführen. London zögert, hat eine Übergangsfrist einseitig bis zum Herbst verlängert, die EU-Kommission reagierte mit einem Vertragsverletzungsverfahren.

Vermummte Demonstranten an einer gesperrten Straße in Belfast. Wegen der Nordirland-Regelung kommt es seit Wochen immer wieder zu Krawallen in Belfast.
Vermummte Demonstranten an einer gesperrten Straße in Belfast. Wegen der Nordirland-Regelung kommt es seit Wochen immer wieder zu Krawallen in Belfast. © dpa | Niall Carson

Bei den britischen Unionisten in Nordirland ist die Nervosität groß: Sie fühlen sich von London verraten, in Belfast kam es in den letzten Wochen immer wieder zu Krawallen.

Schneller könnte es mit der Abtrennung in Schottland gehen: Die Schotten lehnen mehrheitlich den Austritt aus der EU ab – wenn die amtierende Regierungschefin Nicola Sturgeon bei den Parlamentswahlen am 6. Mai wie prognostiziert eine absolute Mehrheit erzielt, dürfte sie mit Nachdruck ein neues Referendum über die Unabhängigkeit fordern mit dem Ziel eines schottischen EU-Beitritts.

Auch die Unabhängigkeitsbewegung in Wales gewinnt Zustimmung, ein Drittel der Einwohner ist aktuell dafür.

Brexit-Vertag: Vorteil EU

So sehr die EU den Austritt der Briten bedauert hat, so sehr werden in Brüssel auch die Vorteile geschätzt: Großbritannien sitzt nicht mehr im Bremserhäuschen, wenn es um eine engere Zusammenarbeit in der Union geht.

Das zahlt sich vor allem in der gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aus, die seit dem Brexit-Beschluss relativ große Fortschritte gemacht hat. Auch der europäische Corona-Aufbaufonds wäre mit den Briten kaum zu erreichen gewesen.

Brexit-Deal: Nachteil EU

Die EU hat mit dem Brexit ihre zweitstärkste Volkswirtschaft und die größte Militärmacht verloren. Die EU-Kommission geht davon aus, dass der Austritt die EU 0,5 Prozent Wirtschaftswachstum bis Ende 2022 kosten wird. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) klagt, drei von fünf Firmen bewerteten ihre Geschäfte mit dem Königreich aktuell als schlecht. Der Brexit bringe deutschen Unternehmen allein durch die Zollbürokratie Mehrkosten von 200 Millionen Euro im Jahr.

Unmittelbar stark betroffen ist die Hochseefischerei, weil EU-Fischer weniger in britischen Gewässern unterwegs sein dürfen. Die deutsche Hochseeflotte rechnet mit Einbußen von 90 Millionen Euro. Lesen Sie hier: Brexit: Diese Folgen hat der Handelspakt für Deutschland

Der Brexit: Folgen für die Partnerschaft

EU-Außenpolitiker McAllister rechnet damit, dass die Folgen des Brexits "uns noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte beschäftigen werden". Er warnt London: "Vertragsverletzungen und gezielte politische Nadelstiche untergraben wertvolles Vertrauen, das es gerade zu Beginn unserer neuen Partnerschaft braucht."