Hamburg. Corona hält den Alten Kontinent im Griff. Man setzt auf Abschottung. Ein Fehler, meint Oliver Schade. Folgen könnten verheerend sein.

Obwohl es keine zwei Wochen her ist, kommt es mir vor wie fernste Vergangenheit. Vor Kurzem lag ich mit der Familie noch auf Fuerteventura am Strand, schwamm im Meer, genoss die vielen Sonnenstunden, aß in einem kleinen Restaurant am Hafen von Morro Jable frischen Fisch. Wir lauschten den Klängen einer Akkordeonspielerin, die sich mit ihrem Instrument auf die Mauer vor dem Restaurant gesetzt hatte, um die Gäste zu unterhalten und um ein paar Euro zu verdienen. Es war diese typische Urlaubsstimmung, auf die man sich jedes Jahr wieder freut, dieses Leben voller Unbeschwertheit, ohne Sorgen, diese Zeit, in der zumindest mir immer mal wieder der Gedanke durch den Kopf schießt: einfach zu Hause in Hamburg alles aufgeben, eine kleine Wohnung auf den Kanaren kaufen, von dort so viel arbeiten, wie man zum Leben muss.

Raus aus dem Alltag, rein in die quasi zweite Heimat – nach Spanien, wo man schon so häufig war, mittlerweile die Sprache gut beherrscht, Freunde hat. Klar, nur Gedanken. Am Ende unrealistisch. Denn so günstig ist das Leben auf den spanischen Inseln dann doch nicht. Und überhaupt: Was bedeutet so ein Ausstieg eigentlich für die Rentenzahlungen aus Deutschland? Was passiert, wenn man auf den Kanaren krank wird? Wie soll der Sohn die Schule zu Ende bringen? Und die Eltern – wie oft sieht man sie noch? Ach, diese so deutschen Gedanken! Der Ausstieg – eher eine Träumerei, aber eine schöne.

Die Hilfeschreie Italiens verhallten in Europa

Zwei Tage nach der Rückkehr aus Fuerteventura gab es nichts mehr zu träumen. Wie mit einem großen, schweren Hammer schlug die Coronarealität zu. Freunde, die noch auf den Kanaren weilten, berichteten über WhatsApp von Ausgangssperren, die Restaurants in Morro Jable schlossen – und auf der Internetseite der spanischen Tageszeitung „El Pais“ stand das Unfassbare: Schon mehr als 100 Tote durch das Virus im Großraum Madrid. Dort, wo ich mit der Familie noch im vergangenen Jahr durch die belebten Einkaufsstraßen schlenderte, abends in den Bars Tapas und Rotwein genoss, im Prado-Museum die Werke von Goya und Velázquez bestaunte und im weitläufigen Retiro-Park den Kleinkünsten von Jongleuren und Zauberern zuschaute.

Madrid – diese so liebenswerte und touristisch unterschätzte Millionenmetropole wurde plötzlich zu einem Ort der Trauer, der Stille, des Todes. Unfassbar! Unsere Freunde aus Guadalajara, einem Ort mit 250.000 Einwohnern, etwa eine Autostunde nordöstlich der spanischen Hauptstadt, sendeten Fotos und Textnachrichten über Instagram. „La situación es dificíl, no podemos salir de casa.“ (Die Situation ist schwierig, wir können das Haus nicht verlassen.) Und sie würden sich Sorgen um uns machen, weil man in Spanien höre, dass die Lage in Deutschland auch nicht einfach sei. „Gran solidaridad“ (Große Solidarität) lautete die Botschaft aus Zentralspanien über das Internet in Richtung Hamburg.

Und was taten die Politiker in Europa? Sie schlossen die Grenzen, schotteten „ihre“ Länder ab, ohne Absprachen untereinander, von heute auf morgen. Solidarität? Mit Sicherheit nicht auf Europa bezogen. Solidarität mit den „eigenen“ Alten und Kranken forderten sie, weshalb alle zu Hause bleiben sollten. Und dann wurden Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Handschuhe geordert – für die „eigene“ Bevölkerung. Während die Zahl der Toten in Italien auf mehr als 3000 und in Spanien auf mehr als 1000 hochschnellte, besann sich Deutschland auf sich selbst. Im reichsten Land auf dem Alten Kontinent regierte – nett ausgedrückt – die Rückbesinnung auf das eigene Schicksal oder wohl besser das Prinzip: Jeder ist sich selbst der Nächste.

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    Und andere Länder in Europa verhielten sich nicht anders. Das reiche Dänemark schottete sich als eines der ersten EU-Mitglieder ab, Polen nahm mit seinen Grenzschließungen kilometerlange Lkw-Staus auf Autobahnen in Kauf, sodass Lebensmittel, Medikamente und andere wichtige Konsumgüter vor den Schlagbäumen unseres östlichen Nachbarn standen und nicht in den Regalen der Supermärkte landeten, wo sie hingehörten. Und der europäische Gedanke? Er klopfte an die Türen der Intensivstation, hustete laut, schwer infiziert vom Coronavirus, wurde aber nicht behandelt, sondern mit der Diagnose nach Hause geschickt: Kurier dich einfach aus! Du schaffst das schon! Derzeit müssen wir uns um uns selbst kümmern.

    Sogar die Hilfeschreie der italienischen Regierung verhallten in Europa ungehört. Die Menschen starben den Ärzten in den Krankenhäusern unter den Händen weg, Leichenwagen fuhren in Kolonnen – und die europäischen Freunde waren damit beschäftigt, für den eigenen Notfall, der vielerorts bis heute noch gar nicht eingetreten ist, vorzusorgen. Wer solche Freunde hat, … Dass die Italiener nun Hilfe aus China und Kuba, aber nicht von den direkten Nachbarn bekamen, dass das Reich der Mitte und die sozialistische Karibikinsel Ärzte und Krankenpfleger unbürokratisch in den Süden Europas schickten – es ist beschämend für den Alten Kontinent. Und dass viele Italiener bereits an der europä­ischen Gemeinschaft zweifeln, sich zumindest in dieser Krise Peking verbundener fühlen als Berlin, es sollte uns alle in Europa wachrütteln.

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    Aus dem Land des EU-Kandidaten Serbien kamen die ersten drastischen Worte: „Es gibt keine europäische Solidarität“, sagte Präsident Aleksandar Vucic. Dies sei nicht mehr als ein Märchen. Er habe bereits Chinas Präsidenten Xi Jinping um Hilfe gebeten und habe ihm „unsere ewige und eiserne Dankbarkeit“ versichert. Der Präsident der italienischen Region Ligurien, Giovani Toti, legte auf Facebook nach, lobte die chinesische Führung ebenfalls: „Danke an Euch, dass Ihr zuerst den Notfall bewältigt habt und dass Ihr jetzt, wo Ihr diesen Kampf gewinnt, nicht zögert, uns die Hand zu reichen. Wenn alles vorbei ist, werden wir uns daran erinnern, wer da war … und wer nicht.“ Und Toti ging noch weiter: „Amerika, China ... und Europa? Brüssel, wo bist du? (...) Von einem Europäer, mit Bedauern ...“ Was Vucic und Toti veröffentlichten, dürften immer mehr Italiener denken. Sie fühlen sich von den Politikern in Europa, nicht zuletzt von denen in Brüssel, im Stich gelassen. Die in Italien ohnehin stark verbreitete Europamüdigkeit, sie dürfte drastisch zunehmen.

    Bereits in der Flüchtlingskrise vor Corona verhielt sich Europa unkoordiniert, unsolidarisch, chaotisch. Hilfe suchende Menschen aus Afrika wurden in brüchigen Booten über das Meer nach Griechenland, Italien und Spanien geschwemmt – und wie reagierte das Gros der anderen EU-Staaten? Man sendete Geld und warme Worte, das war‘s! Südeuropäer, lasst uns mit Euren Problemen alleine, wir haben genug eigene, so lautete schon damals die Botschaft aus dem Norden. Und in der Coronakrise?

    Die Botschaft ist keine andere, leider! Wie heißt es so schön: Deine Freunde erkennst du in der Not. Und jetzt hat Europa Not. Es ist nur eine Annahme, die nicht mehr zu beweisen ist: Aber hätten wir große Europäer wie Helmut Schmidt, Giscard d’Estaing oder Felipe Gonzalez heute an den politischen Schalthebeln sitzen, sie würden Europa nicht so einfach preisgeben, auch nicht wegen eines gefährlichen Virus. Vergessen scheint der lange Prozess der europäischen Einigung, der im Jahr 1950 mit dem Plan des französischen Außenministers Robert Schumann begann, sich mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl fortsetzte, in der Europäischen Union mündete und immerhin 19 Ländern eine gemeinsame Währung, den Euro, bescherte.

    Nicht wenige Politiker, die heute so unsolidarisch und egoistisch handeln, sollten nicht verdrängen, dass das Europa der vergangenen Jahrzehnte Frieden, Wohlstand und Freiheit sicherte. Und dass es dieses Europa nicht zum Nulltarif gibt. Solidarität muss man üben, will man die Menschen auch in Zukunft für die europäische Idee begeistern. Zum Vergleich: Wer würde mit einem Lebenspartner zusammenbleiben, der einen in den schwersten Stunden, zum Beispiel während einer Krebserkrankung, für vier Wochen verlässt und in den Urlaub fährt, weil er sich wegen psychischer Probleme zunächst einmal um sich selbst kümmern möchte?

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    • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Händewaschen
    • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
    • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
    • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten, die Infektionssymptome zeigen
    • Schutzmasken und Desinfektionsmittel sind überflüssig – sie können sogar umgekehrt zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen

    Es wird eine Zeit nach Corona geben. Aber wie wird sie aussehen? Ob die Schlagbäume wieder komplett hochgezogen werden? Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ dies jüngst offen. Sie hoffe darauf, sagte sie kurz angebunden und mit einem Blick voller Zweifel. Überzeugung hört sich anders an. Nun ist es immer einfach, auf Politiker zu schimpfen. Letztlich sind sie derzeit auch nur in ihrem Handeln von Virologen getrieben, lassen sich nach bestem Wissen hoffentlich richtig beraten. Was sollen sie anderes tun? Sich mit ihrem eigenen Physik-, Philosophie- oder anderem nicht medizinischem Studium über die Empfehlungen von Experten hinwegsetzen? Möglich, aber riskant!

    Und dass die Regierenden zuerst an die Menschen denken, die sie direkt gewählt haben, es ist zumindest nachvollziehbar. Dennoch muss der Appell jetzt lauten: Vergesst Europa nicht! Sonst besteht die Gefahr, dass Hasardeure wie US-Präsident Donald Trump und Großbritanniens Premierminister Boris Johnson sich nach Corona die Hände reiben werden, weil ein Virus das geschafft haben könnte, was zuvor in Jahrzehnten glücklicherweise nicht gelang: die unumkehrbare Rückkehr zum Nationalismus, zur Kleinstaaterei, zum Kirchturmspitzendenken.

    Europa muss politisch wieder zusammenrücken – und zwar noch in der Krise, nicht erst danach. Dafür müssen die Politiker von Warschau, über Berlin, Paris, Madrid bis Lissabon schnellstens sorgen, sich abstimmen, dem europä­ischen Volk zeigen: Wir stehen zusammen, wir lassen niemanden alleine, niemanden in unserem gemeinsamen europäischen Haus. Sie müssen sich wieder an den Sinn, das Gute eines vereinten Europas erinnern, an die gemeinsamen Werte. Und gerade die Mächtigsten der Mächtigen müssen voranschreiten: Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron dürfen es nicht bei emotionalen Appellen oder Kriegsrhetorik gegen den Feind namens Corona belassen. Besinnt euch, bevor es zu spät ist! Europa muss mit seiner gemeinsamen Stärke das Virus besiegen. Dieser reiche, vielfältige Kontinent mit seinen gebildeten, liebenswerten Menschen muss jetzt beweisen, dass er mehr ist als eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft. Und die Politiker müssen vorangehen.

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    Aber auch wir als Bürger können etwas tun, damit Europa durch Corona nicht dauerhaft zersplittert bleibt. Selbst wenn es nur kleine Gesten, Mails, Briefe oder Päckchen sind. Lasst uns Kontakt halten, gerade jetzt, mit Menschen im europäischen Ausland, die wir kennen aus dem Urlaub, vom eigenen Schüler- oder Studentenaustausch oder über unsere Kinder und Enkel! Lasst die Menschen in Bergamo, Madrid und Paris spüren, dass wir in der Krise nicht nur auf uns schauen, dass wir solidarisch mit ihnen sind! Denn womöglich sehnen wir uns schon bald nach ihrer Solidarität – und wir festigen durch dieses Verhalten auch den mehr als porösen Beton für ein neues europäisches Fundament nach Corona. Denn dieses sichere Fundament brauchen wir, um ein noch stabileres, besseres Haus Europa zu errichten, das für die nächsten Krisen, die mit Sicherheit kommen werden, besser gerüstet sein muss als das derzeit wankende.

    PS: Habe gerade eine Instagram-Nachricht von Javi aus Guadalajara bekommen: Er sendet mir „un abrazo fuerte de tu hermano español“ (eine innige Umarmung von Deinem spanischen Bruder). Was für ein berührendes Signal in dieser verrückten Zeit.