Chemnitz. Chemnitz hatte sich gut entwickelt. Nach Hetzjagden auf Ausländer steht sie für viele für den rechten Osten. Steinmeier kam zum Dialog.

Als der Bundespräsident mit seinem Tross über das Kopfsteinpflaster vor dem Chemnitzer Rathaus geht, ruft ein einzelner, älterer Herr: „Hau ab, Hau ab.“ Kameras klicken. Die Umstehenden schweigen. Der Mann trollt sich.

Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) hatte Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag nach Chemnitz eingeladen. Hinter verschlossenen Türen diskutiert Steinmeier mit Chemnitzern mit unterschiedlichen politischen Positionen. Im Rathaus sagt er: „Ich bin gekommen, nicht so sehr, um über die Chemnitzer oder über die Sachsen zu sprechen.“ Vielmehr wolle er mit den Menschen ins Gespräch kommen. „Es geht nicht ums Rechthaben oder Rechtbehalten. Es geht um Lösungen.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig unterwegs in Chemnitz
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig unterwegs in Chemnitz © Getty Images | Sean Gallup

Um Lösungen kämpft Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig, seit zwölf Jahren Chefin im Chemnitzer Rathaus, nicht erst seit dem 26. August 2018. Der Tag an dem

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vor dem Karl-Marx-Kopf in der Innenstadt zeigten, gingen um die Welt. Die Attacken auf vier ausländische Restaurants in den vergangen Wochen erschütterten nicht nur die Chemnitzer. Seitdem steht Chemnitz in einer Reihe mit Heidenau, Dresden oder Rostock-Lichtenhagen. Orte rechten Terrors. Seitdem ist es unerlässlich geworden, Lösungen für die Probleme zu finden. Was für eine Stadt erwartete den ersten Mann im Staat?

Wie soll in Chemnitz ein Aufbruch gelingen?

Ein kühler Herbsttag kurz vor dem Präsidenten-Besuch. Endlich ein erfreulicher Termin für Barbara Ludwig. Die rund 150 Chemnitzer, die in die historisch charmante Hartmann-Fabrik in Chemnitz gekommen sind, begegnen ihrer Oberbürgermeisterin freundlich. Hier spuckt ihr niemand hinterher, brüllt sie niemand nieder.

Mit wenigen Worten eröffnet die SPD-Politikerin ihren Bürgerdialog. Thema: die Bewerbung der Stadt zur Kulturhauptstadt 2025. Die Halle selbst, in der schon der Chemnitzer Eisenbahnpionier Richard Hartmann seine Dampflokomotiven baute, soll künftig Platz für experimentelle Kunst bieten. Man müsse jetzt in Chemnitz wieder nach vorn schauen. „Aufbruch, das ist ja das Thema unserer Bewerbung“, sagt Ludwig.

Aber wie soll das gelingen? Jeden Freitag bietet sich in Chemnitz ein ganz anderes Bild. Vor dem Karl-Marx-Kopf im Herzen der Innenstadt, die auch 30 Jahre nach der Wende wirkt wie aus dem Baukasten für sozialistische Planstädte, sammeln sich etwa 1000 Menschen. Schwarz-rot-goldene Fahnen wehen im kalten Herbstwind. „Glück auf, rechtsradikale Szene“, begrüßt ein Redner die Demonstranten. Jeden Freitag, seit Ende August, trifft sich die „ProChemnitz“-Demo am „Nischel“, wie die Chemnitzer den riesigen Stein-Marx nennen.

Sie singen „Merkel hat das Land gestohlen“

Es geht gegen die Zuwanderung oder: „Umvolkung“, wie ein grauhaariger Herr sagt. Danach marschieren sie durch die Stadt, stimmen Parolen an. Zur Melodie von „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ singen sie etwa: „Merkel hat das Land gestohlen, gib es wieder her, sonst wird dich der Sachse holen mit dem Luftgewehr.“

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    Der Freitagabend in Chemnitz hat sich als Treff der rechtsradikalen Szene aus ganz Sachsen etabliert – sie haben die Stadt an diesen Abenden in Geiselhaft. Viele reisen mit dem Auto aus Dresden, Zwickau oder dem Erzgebirge an. Nach den Demonstrationen kommt es regelmäßig zu Angriffen auf Ausländer.

    Auch am Freitag vor dem Präsidentenbesuch: „Das ist ein deutscher Laden, ihr Kanaken habt hier nichts zu suchen“, schreit eine Handvoll Betrunkener vor einem Supermarkt. Hinter den Glastüren stehen ein paar dunkelhäutige Männer, Asylbewerber. Dann, so beschreibt es ein Zeuge, packt einer der Betrunkenen eines der Opfer und zerrt es aus dem Laden.

    Es hätte viel Positives zu erzählen gegeben über Chemnitz

    Es sind Geschichten wie diese, die ausländische Studenten dazu bewegen, Chemnitz zu verlassen.

    Es sind Geschichten wie diese, die das Bild von Chemnitz in Deutschland prägen. „Wenn man so will, sind wir jetzt weltbekannt“, sagt Bürgermeisterin Ludwig. Es klingt bitter. Ihr, der Ur-Chemnitzerin, tue das schon weh. Kaum jemand hatte ein Bild von Chemnitz, und jetzt? So eines.

    Die Stadt schien die bitteren Nachwendejahre gerade überwunden zu haben, den kompletten Zusammenbruch der heimischen Textilindustrie, den Verlust von 60.000 Einwohnern. Es gäbe so viel Positives zu erzählen: die steigenden Geburtenzahlen, die zwölf neuen Kitas, die die Stadt baut, die Investitionen in die Innenstadt. Mit 1,8 Milliarden Euro, erzählt Ludwig stolz, sei der Haushalt so groß wie nie. Chemnitz hatte sich herausgeputzt, feiert in diesem Jahr Stadtjubiläum: 875 Jahre. Dann kam der 26. August 2018. „Die Leichtigkeit ist seitdem weg“, sagt Ludwig.

    Investoren fragen: Lohnt es sich, jetzt zu kaufen?

    Wer die aktuelle Situation von Chemnitz verstehen will, muss vielleicht auf den Sonnenberg. Fast jeder Dritte bezieht hier Hartz IV, 13 Prozent der Menschen sind Ausländer – für Chemnitz ist das sehr viel. Sonnenberg galt lange als Problemviertel, hat heute aber Perspektive. Vor etwa zwei Jahren wollten Rechte den Stadtteil zur „national befreiten Zone“ machen. Linke vertrieben sie.

    Spaziert man heute durch das Gründerzeitviertel, hat jemand das Wort „Nazis“ auf eine Hauswand gekritzelt. Dahinter steht in anderer Schrift das Wort „boxen“. Nazis boxen. In letzter Zeit sind Bio-Läden entstanden, Hausbesitzer erhalten Anrufe von Investoren: Lohne es sich, jetzt zu kaufen? Ein Sterne-Koch hat sein Restaurant aufgemacht. Aufschwung, klassisch.

    5000 Asylbewerber – das hat auch Probleme gebracht

    Daneben haben arabische Restaurants geöffnet und kleine Supermärkte, die zwar keinen Bautzner Senf verkaufen, aber Hummus und Couscous. Die 5000 Asylbewerber, die heute in Chemnitz leben, verändern das Stadtbild. Manchem gefällt das nicht, jeder Vierte wählte bei der vergangenen Bundestagswahl AfD. Wer durch die Innenstadt in Chemnitz geht, begegnet heute vielen Migranten, die sich hier die Zeit vertreiben. Das kannte man so nicht.

    Barbara Ludwig (SPD), Oberbürgermreisterin von Chemnitz.
    Barbara Ludwig (SPD), Oberbürgermreisterin von Chemnitz. © Oliver Killig | Oliver Killig

    Und einige Probleme hat das auch gebracht: „Das sind einige wenige Gruppen von Migranten, die sich in der Innenstadt aufhalten, die Frauen anmachen und Menschen anpöbeln“, räumt die Bürgermeisterin ein. Man habe heute einige Probleme, die man vor 2015 so noch nicht hatte. Die Statistik sagt: Zwei Drittel der gefährlichen und schweren Körperverletzungen im Chemnitzer Zentrum werden von Ausländern begangen. Eine Umfrage der Bürgermeisterin ergab Anfang des Jahres, dass sich zwei Drittel der Chemnitzer in der Innenstadt nicht sicher fühlen. Die Veränderungen im Stadtbild seien eben sehr, sehr schnell gekommen, erklärt Ludwig. Viele Chemnitzer fremdeln noch mit dem Fremden.

    Mit Medienpädagogik gegen Hetz-Videos auf Youtube

    Mitten im Sonnenberg-Viertel, wo die Chemnitzer Realitäten aufeinanderprallen, liegt die Georg-Weerth-Oberschule. 300 Schüler, der Migrantenanteil liegt bei 50 Prozent. Italiener, Bulgaren, Afghanen, Deutsche – eine bunte Mischung. Im Aufgang zum Büro der Rektorin tuscheln ein paar junge Mädchen mit Kopftüchern. „Wir versuchen, den Schülern hier eine Haltung mitzugeben, die den Konflikten in der Gesellschaft standhält“, sagt Schulleiterin Evelin Grunwald. Eine resolute Frau, ihr Sächsisch geht leicht ins Ohr.

    Lange habe sie für das Siegel gekämpft, das die Schule heute trägt: „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“. Was in den vergangenen Wochen passiert sei, das war natürlich Thema: im Unterricht, auf den Schulfluren, zu Hause bei den Schülern. Wie geht man damit um als Schulleiterin? „Wir versuchen, vor allem medienpädagogisch entgegenzuwirken, da wurde in den vergangenen Jahren zu wenig getan“, sagt Grunwald. Schüler schauen hetzerische, gewaltverherrlichende Videos auf Youtube, können oft nicht einordnen, wo sie herkommen. Auch das schaukelt die Stimmung hoch.

    „Auch viel richtig gemacht“

    Grunwald haben die Ereignisse nachdenklich gemacht, auch verärgert, aber die Schulleiterin will nicht schwarzmalen: Der Wandel in Sonnenberg freut sie, der kommt auch in der Schule an. Die Schülerschaft mische sich besser. Nur wie ihre Heimat, ihr Chemnitz, gerade dasteht, das fasst sie an. Da sei auch unseriös berichtet worden. „Bei aller Hysterie, die es gab, muss man sagen, dass hier auch viel richtig gemacht wurde.“

    Unter den 60.000 Menschen, die Anfang September gegen Rechts demonstrierten, seien ja auch viele Chemnitzer gewesen. Das Konzert wurde von der Chemnitzer Band Kraftklub organisiert. Es habe viele weitere Aktionen gegeben in der Stadt, man habe sich klar positioniert. Das sei schon untergegangen, sagt sie. Ihre Finger kneten den kleinen Ring am an der Hand.

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      „Chemnitz“, sagt sie, „das ist meine Stadt.“ Auch die Ereignisse der vergangenen Wochen könnten das nicht ändern. Die Angst aber, die in Chemnitz nach dem zarten Aufschwung der vergangenen Jahre viele umtreibt, hat auch sie: „Die Öffentlichkeit vergisst das nicht.“ Die rechtsextremen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen seien 26 Jahre her, trotzdem wisse noch jeder, was das „Sonnenblumenhaus“ sei. Wird der Chemnitzer Karl-Marx-Kopf ein ähnliches Symbol? „Das, was passiert ist, können wir nicht ändern – wir können nur unsere Lehren daraus ziehen“, sagt Grunwald. Chemnitz müsse jetzt verdauen, müsse zum Tagesgeschäft zurückkehren.

      Angriffe auf jüdisches und anatolisches Restaurant

      Das persische Restaurant Safran war eines, das angegriffen wurde.
      Das persische Restaurant Safran war eines, das angegriffen wurde. © Getty Images | Sean Gallup

      Ein Tagesgeschäft, das gibt es für Ali Tulasoglu nicht mehr. Sein anatolisches Restaurant „Mangal“ ist vor zwei Wochen ausgebrannt, in der Nacht zum 18. Oktober. Ein Brandanschlag. Es ist der vierte Angriff auf ein Restaurant in Chemnitz in nur acht Wochen. Ende August wurde bei einer Rechten-Demonstration das jüdische Restaurant Schalom mit Steinen beworfen. Anfang Oktober stürmten drei Männer mit Motorradhelmen das persische Restaurant Safran, kurz darauf wurde das von Iranern betriebene Restaurant Schmetterling bedroht.

      Der kühle Herbstwind bläst bunte Blätter auf die Terasse des ausgebrannten Mangal, rot-weißes Absperrband flattert vor dem Eingang. Die Scheiben sind rußschwarz. „Über dem Restaurant haben in der Nacht Kinder geschlafen“, sagt Gastronom Tulasoglu, zieht an seiner Zigarette. Er raucht viel in letzter Zeit. Hätte die Nachbarin um halb drei Uhr morgens nicht den lauten Knall gehört, sagt er, dann hätte es wohl Tote gegeben. Der Rauch war bereits ins Treppenhaus gezogen.

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        „Chemnitz ist meine Heimat“

        Der 46-jährige hatte gehofft, es sei ein Kurzschluss gewesen. Dass es Brandstiftung war, das schockt ihn. Sein Lokal war sein Traum, seine Existenz. Im Sommer 2017 hatte er eröffnet, der Laden lief. In 24 Jahren in Ostdeutschland habe er nie Probleme gehabt oder Drohungen erhalten, weil er aus der Türkei stammt. „Die Menschen in Chemnitz waren immer freundlich zu mir, das ist meine Heimat“, sagt er.

        In der Nacht, in der das Mangal in Flammen stand, haben Nachbarn drei Personen in einen Wagen flüchten sehen, so schreibt es die Polizei. Ein rechtsextremer Hintergrund ist noch nicht bewiesen. Allerdings hat der Staatsschutz die Ermittlungen übernommen. Das heißt, die Ermittler halten das für wahrscheinlich. Denn wieder waren da diese drei Personen. Eine Terror-Zelle, die Chemnitz nicht zur Ruhe kommen lässt?

        Steinmeier: Ich hoffe, dass sich das öffentliche Bild korrigiert

        Ali Tulasoglu sagt: „Ich glaube, nicht dass das Chemnitzer sind.“ 99 Prozent der Stadt stünden doch hinter ihm, so viele Menschen wollten Spenden. Schon Ende August habe er beobachtet, wie sich Rechtsextreme aus ganz Deutschland in der Stadt sammelten. Er habe ja die Kennzeichen gesehen: Dortmund, Bonn, München, Dresden. Aufgeben also kommt für ihn nicht in Frage. „Das Schlimmste wäre, jetzt weg zu gehen.“ Denn dann hätten die Rechtsradikalen ja gewonnen. Trotzdem: Solange die Täter nicht gefasst sind, will Tulasoglu nicht wieder öffnen. Immerhin fährt die Polizei nun häufiger Streife. Alle Viertelstunde rollt ein Polizeiwagen am Mangal vorbei. „Da haben die Behörden gut reagiert“, findet Tulasoglu.

        Zurück im Rathaus, wo sich der Bundespräsident in das goldene Buch der Stadt einträgt. Steinmeier spricht die Wut an, die sich bei den Chemnitzern in die Trauer nach dem 26. August gemischt habe, verurteilt jede Gewalt. Er sagt: „Ich hoffe, dass sich das öffentliche Bild über diese Stadt wieder korrigiert und darüber berichtet wird, was diese Stadt ausmacht.“ Oberbürgermeisterin Ludwig wünscht sich, dass ihre Stadt zur Besinnung kommt. Damit Chemnitz sich wieder entwickeln kann: „Wie eine echte europäische Stadt.“