Berlin. Nach Bayern ist vor Hessen. Wenn die SPD auch dort verliert, könnten die Tage von Andrea Nahles als Parteivorsitzende gezählt sein.

Schockstarre und Ratlosigkeit bei der SPD am Tag danach. 9,7 Prozent in Bayern, so tief ist die älteste deutsche Partei noch nie bei einer Landtagswahl gesunken. Negativrekord waren bislang 9,8 Prozent in Sachsen vor 14 Jahren. Andrea Nahles und Natascha Kohnen treten um 11.15 Uhr gemeinsam im Willy-Brandt-Haus in Berlin auf. Früher gab es für die Spitzenkandidaten einen Blumenstrauß, egal, wie das Ergebnis ausfiel. Aber darauf hat man verzichtet. Es gibt nichts zu feiern. Schon die Wahlparty am Vorabend war erstmals seit Jahrzehnten gestrichen worden. Angeblich aus Kostengründen. Es ging um 5000 Euro.

Mit betretener Miene versucht Parteichefin Nahles nach einer kurzen Nacht eine Erklärung für das Desaster zu finden. Wieder landet sie bei der schlechten Performance der großen Koalition, Schuld daran hätten die CSU und deren Vorsitzender und Innenminister Horst Seehofer. Dessen Rücktritt fordert Nahles aber nicht. Dabei sagen SPD-Spitzenleute ziemlich offen, dass die Groko auf keinen grünen Zweig mehr kommen werde, solange Seehofer im Amt bleibe.

Kohnen, die Spitzenkandidatin aus Bayern, ist in der Analyse einen Schritt weiter. „Die Menschen sind uns mit unglaublich großer Distanz begegnet“, erzählt sie. Die Wähler kauften der SPD einfach nicht mehr ab, was sie verspreche. Für eine Volkspartei ist das fast schon ein Offenbarungseid.

Dass Kohnen Recht hat, belegen Analysen der Landtagswahl. Soziale Gerechtigkeit, Wohnungsbau, Familienpolitik, Bildung – die Kompetenzwerte der SPD sind ins Bodenlose gestürzt. Kohnen macht bislang keine Anstalten, Landesvorsitz oder ihren Posten als Nahles-Stellvertreterin aufzugeben. In den nächsten Tagen werde schonungslos über alles geredet.

Schon zittern sie bei den Sozialdemokraten, dass der Abwärtssog in Hessen durchschlagen könnte, wo am übernächsten Sonntag gewählt wird. Dort hält sich der SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel bislang recht gut. Bei 23 bis 25 Prozent wurde die SPD in den Umfragen gehandelt – allerdings vor dem Bayern-Tiefschlag.

TSG, der ewige Herausforderer in Hessen

TSG, wie er in der SPD genannt wird, ist der ewige Herausforderer. Es ist sein dritter Versuch, nach fast 20 Jahren die Staatskanzlei in Wiesbaden von der CDU zurückzuerobern. Nahles klammert sich an das Ziel, dass in Hessen der Regierungswechsel gelingt. „Als SPD stehen wir zusammen. Wir müssen jetzt nach vorne schauen.“ Ihre Partei müsse in der Koalition mehr Tempo machen, mehr Profil zeigen, sozialen Ballast wie Hartz IV loswerden. Das verspricht die Vorsitzende seit ihrem Antritt im April. Und in den Umfragen bewegt sich die SPD unter ihrer Führung in Richtung 15 Prozent.

In Hessen regiere ein amtsmüder Ministerpräsident Volker Bouffier, mit den Themen bezahlbares Wohnen, Mobilität, Zukunft der Arbeit werde die SPD punkten, hofft Nahles.

Dieser Mix war den bayerischen Wählern zu wenig. In Großstädten wie München und Nürnberg, die von SPD-Oberbürgermeistern regiert werden, zogen die Grünen an den Genossen im Eiltempo vorbei. SPD-Wahlkämpfer berichten, angesichts der blamablen Diesel-Lösung in der Koalition und dem von Nahles vorgegebenen Festhalten an der Braunkohle habe man der Ökopartei nichts entgegensetzen können.

Aber was passiert in der SPD, wenn die Grünen ihren Lauf fortsetzen und gemeinsam mit Bouffier die Regierung fortsetzen? „Wenn wir da wieder keinen Regierungswechsel hinkriegen, wird es eng“, sagt ein Spitzengenosse. Gemeint ist Nahles. Dann wackelt ihr Vorsitz. Der Frust in der Partei ist riesengroß. Und die Zweifel wachsen massiv, ob das Duo Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz das Blatt noch wenden kann. Beider Autorität schwindet.

Nahles ist der Draht zur Basis abhandengekommen

Nahles‘ krasse Fehleinschätzung, die von ihr mit CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Innenminister Horst Seehofer zunächst ausgehandelte, später dann gekippte Lösung, den in Ungnade gefallenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen zum Staatssekretär zu machen, löste an der Parteibasis einen Aufschrei aus. Nahles hatte geglaubt, sie habe einen großen Erfolg mit nach Hause gebracht. Die 48-Jährige, der immer nachgesagt worden war, sie kenne die SPD so gut wie niemand sonst, ist nicht zum ersten Mal der Draht zur Basis abhandengekommen.

Nahles: Kein Rückenwind aus Berlin

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    Und Scholz? Bestätigt gerade alle Vorurteile, die die Partei ihm gegenüber hat. Beim Erklären der Wahlniederlage ließ er Nahles und Generalsekretär Lars Kliungbeil im Regen stehen. Er kam noch nicht einmal zu den Gremiensitzungen in die Parteizentrale.

    Scholz hält sich seit jeher für den besten Vorsitzenden

    Dabei hatte er seine überstürzte Abreise vom Treffen des Weltwirtschaftsforums auf Bali – Scholz buchte nach einem Defekt an der Regierungsmaschine für sich und seine Entourage Linienflüge, während viele Beamte ohne jede Information zurückblieben – damit begründet, dass er zur Wahlanalyse in Berlin sein müsse. Scholz hält sich seit jeher für den besten Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten, den die SPD haben könne. Stürzt Nahles, könnte auch der frühere Hamburger Bürgermeister mitgerissen werden. Hoch im Kurs, um notfalls die SPD zu führen, stehen in der Partei die in ihren Ländern erfolgreichen Ministerpräsidenten Manuela Schwesig, Stephan Weil und Manu Dreyer.

    Wie lange die Groko-Gegner in der SPD noch stillhalten, mag niemand voraussagen. Vor Hessen soll keine Panik ausbrechen. Juso-Chef Kevin Kühnert, Parteivize Ralf Stegner, Linken-Sprecher Matthias Miersch und Berlins Bürgermeister Michael Müller formulierten am Wochenende bei einem Kongress aber einen kämpferischen Appell gegen das Weiter-So in der Koalition. Die SPD-Linke wolle zwar stabile politisch Verhältnisse in Deutschland und nicht leichtfertig die GroKo kippen, „aber der Geduldsfaden ist zum Zerreißen gespannt“, heißt es. Handwerklich gut regieren reiche eben nicht. Genau das propagieren Nahles und Scholz.

    Dass ein linker Gegenentwurf zur Politik der Union erfolgreich sein könne, habe der Höhenflug im Frühjahr 2017 (damals mit Martin Schulz) gezeigt, sagen die Linken, die sich selbst als „Motor der Hoffnungsmaschine SPD“ verstehen. „Wer versucht, es allen recht zu machen, wird es niemanden recht machen“, schreiben Kühnert & Co. in einem Strategiepapier. Für Nahles und die große Koalition wird es eng. Nach der Hessen-Wahl wird in der SPD abgerechnet.