Berlin. Nach der Freigabe von Cannabis als Arzneimittel zieht die Barmer ein kritisches Fazit. Die Wirksamkeit sei weitgehend unerforscht.

Rund eineinhalb Jahre nach der gesetzlichen Einführung von Cannabis als Medizin zieht die zweitgrößte Krankenkasse Barmer ein kritisches Fazit dieser Behandlungsmethode. „Die bisher zur Verfügung stehenden Daten lassen vermuten, dass viele Cannabis-Verordnungen die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen konnten“, schreibt die Chef-Medizinerin der Kasse, Ursula Marschall, in einem noch unveröffentlichten Bericht, der dieser Redaktion vorliegt.

Marschall kritisiert vor allem, dass die Wirksamkeit von Cannabis-Behandlungen noch immer weitgehend unerforscht sei. Dies werde sich auch in absehbarer Zeit nicht ändern, „weil die medizinische Therapie nicht in kontrollierten Studien erfolgt“.

Seit dem März 2017 können Ärzte aller Fachrichtungen ihren Patienten Cannabis-Präparate verordnen, wenn diese unter „schwerwiegenden Erkrankungen“ leiden. Voraussetzung dafür ist aber, dass alle anderen Behandlungsalternativen ausgeschöpft sind. Der Patient muss außerdem vor Beginn der Therapie bei seiner Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme gestellt haben. Grundsätzlich ist Cannabis als Medikament in Deutschland bereits seit dem Jahr 2011 verfügbar, die Bedingungen dafür waren aber äußerst streng.

Zwei Drittel der Anträge auf Cannabis werden bewilligt

Seit Inkrafttreten der gelockerten Regeln verzeichnen die Krankenkassen immer mehr Anträge auf eine Behandlung mit Cannabis-Präparaten. Auch die Kosten dafür steigen steil an, auch wenn sie nach Angaben der Kassen verglichen mit anderen neuen Medikamenten noch immer relativ gering sind.

Nach den neuesten Zahlen der Barmer, die rund neun Millionen Menschen versichert, gab es bisher 6583 Anträge auf Übernahme der Kosten für Cannabis-Arzneimittel. Davon seien ziemlich exakt zwei Drittel bewilligt worden (4436 Anträge). Die meisten Anträge zur Kostenübernahme seien aus Bayern und Nordrhein-Westfalen gekommen. Die geringste Nachfrage habe es aus Thüringen, dem Saarland und Bremen gegeben.

Je nach Bundesland sei die Hälfte bis drei Viertel der Anträge bewilligt worden. Hauptgrund für eine Ablehnung sei, dass nicht alle alternativen Behandlungsmethoden ausgeschöpft worden seien. Oft gebe es auch keine Hinweise darauf, dass Cannabis den Patienten überhaupt helfen könne.

Insgesamt hat die Barmer nach eigenen Angaben bisher acht Millionen Euro für die Behandlung mit Cannabis-Präparaten ausgegeben. Am teuersten sind Cannabis-Blüten. Sie kosten die Kasse pro Monat und Patient jeweils fast 1200 Euro. Grund dafür ist, dass Apotheken die Blüten als extra angefertigtes „Rezepturarzneimittel“ abgeben. Dafür können sie hohe Preiszuschläge verlangen.

„Cannabis-Blüten sind nicht nur unverhältnismäßig teuer“, sagt Barmer-Expertin Marschall. „Sie sind in der Praxis auch kaum dosierbar, da es verschiedene Sorten, Stärken und Verabreichungsformen gibt.“ Die Blüten sollten deshalb nicht verwendet werden, „zumal es alternative Cannabis-Präparate gibt“, so Marschall. Mit den günstigsten Cannabis-Präparaten koste die Behandlung rund 340 Euro pro Monat. In dem Gesetzentwurf, mit dem Cannabis auf Rezept im vergangenen Jahr möglich wurde, hatte die Bundesregierung einst mittlere monatliche Kosten von 540 Euro veranschlagt.

Patienten mit chronischen Schmerzen erhalten Cannabis

Auch nach einigen Monaten Erfahrung mit Cannabis auf Rezept kann die Krankenkasse noch nicht sicher ableiten, für welche Krankheiten die Präparate bisher verordnet wurden. Laut dem Barmer-Bericht dürften vor allem Patienten mit chronischen Schmerzen mit Cannabis-Präparaten versorgt worden sein. Bei rund der Hälfte der Patienten sei dies der Hauptgrund gewesen.

Auf Platz zwei folgt die Behandlung von Multiple Sklerose mit Cannabis-Präparaten (30 Prozent). Bei etwa sieben Prozent der Patienten war eine bösartige Krebserkrankung der Anlass für die Behandlung. Die Befürchtung, dass Ärzte auch Patienten mit weniger schwerwiegenden Beschwerden mit den Präparaten versorgen, sei nicht eingetreten, heißt es in dem Bericht.

Die Therapieversuche mit Cannabis würden überwiegend an Patienten stattfinden, die unter mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden und deren Lebensqualität dadurch massiv eingeschränkt sei.

Cannabis, Marihuana, Haschisch – Das steckt hinter den Bezeichnungen

weitere Videos

    Barmer-Expertin Marschall gibt aber zu bedenken: „Die zum Teil nur ausgesprochen kurzen Verordnungsperioden zeigen auch, dass Cannabis oft nicht der Heilsbringer ist, den sich die betroffenen Patienten, deren Ärzte und vielleicht auch der Gesetzgeber mitunter erhofft haben.“ Die meisten Patienten erhielten nur relativ geringe Dosierungen der Blüten, was auf eine fehlende Gewöhnung oder auf eine hohe Rate an Nebenwirkungen bei höheren Dosierungen hinweisen könne. Es müsse hinterfragt werden, ob die nachweislich medizinisch wirksamen Alternativen „vor dem individuellen Heilversuch mit Cannabis jeweils ausgeschöpft wurden“.

    Marschalls Hauptkritikpunkt ist deshalb, dass Teile einer „psychoaktiven Pflanze“ per Gesetz zu einem verordnungsfähigen Medikament gemacht worden seien, „ohne dass zuvor mit vertrauenswürdigen Studien die möglichen Wirkungen bei verschiedenen Indikationen, die zu erwartenden Risiken, die Nebenwirkungen und die sinnvollen Studien erforscht worden sind“. Das ganz normale Zulassungsverfahren, wie es jedes andere neue Medikament durchlaufen müsse, sei umgangen worden.

    Mit ihrer Kritik steht die Barmer-Expertin nicht allein. Kürzlich hatte auch die Techniker Krankenkasse ein erstes Fazit von Cannabis-Präparaten vorgestellt. Der Arzneimittel-Fachmann Gerd Glaeske hatte aus diesem Anlass eine „vernünftige Versorgungsforschung gefordert“. Der Einsatz der Pflanze sei noch viel zu wenig erforscht.