Berlin. Cem Özdemir gehört zu den populärsten Politikern Deutschlands – obwohl er nicht mehr an der Spitze der Grünen steht. Woran liegt das?

Er kommt mit seinem grünen Elektro-Fahrrad. Fast so, als wäre noch Wahlkampf. Doch

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blickt einem entspannteren Sommer als 2017 entgegen. Im Café Einstein, in der Nähe des Bundestages, bestellt er erst mal einen Latte Macchiato.

„Mir macht Wahlkampf Spaß“, sagt Özdemir. „Aber dieses Jahr freue ich mich auch auf den

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mit meiner Frau und meinen Kindern in Süditalien.“ Auch sonst sei es schön, etwas mehr Zeit zu haben. „Zuletzt war ich auf dem Konzert der Toten Hosen in Stuttgart.“ Was man halt so macht, wenn man den Sommer etwas ruhiger angehen lassen kann.

Özdemir und Lindner haben sich nicht ausgesprochen

Cem Özdemir, 52 Jahre alt, war 2017 Spitzenkandidat der Grünen im Bundestagswahlkampf, seine Partei holte 8,9 Prozent, er wollte sie nach zwölf Jahren in der Opposition wieder in eine Bundesregierung führen, fast wäre er Minister einer Jamaika-Koalition geworden, vielleicht sogar Außenminister. Doch daraus wurde nichts. Der neue Außenminister heißt

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(SPD).

Verbittert darüber wirkt Özdemir nicht. „Ich ärgere mich nicht über Sachen, die ich nicht beeinflussen kann“, sagt er. „Das führt nur zu Haarausfall oder einem Magengeschwür.“ Und außerdem: Die Grünen hätten Jamaika nicht verbockt, er habe alles gegeben, sei mit sich im Reinen. Damit zielt Özdemir Richtung FDP-Chef Christian Lindner, der die Sondierungen platzen ließ. Er habe sich mit Lindner nicht ausgesprochen, sagt er trocken. „Warum auch?“

Er gilt als beliebtester Politiker ohne Spitzenamt

Die Grünen haben als kleinste Fraktion im Bundestag nur wenig Spitzenposten zu besetzen. Parteichef sein – das wollte Özdemir nicht mehr, das hatte er schon früh angekündigt. In der Fraktion hatte er keine Mehrheit, also scheute er die Kampfkandidatur gegen den linken Fraktionschef Anton Hofreiter. Und Bundestagsvizepräsidentin war nun mal schon Claudia Roth. Blieb also nur noch der Ausschussvorsitz im Bundestag für Verkehr und digitale Infrastruktur. Es ist ein bisschen so wie für einen Fußballspieler die Reservebank.

Özdemirs Umfragewerte haben nicht gelitten. Im Gegenteil. Er steht im ZDF-Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen in einer Top-Position: Im Juni war er populärster Politiker Deutschlands, aktuell rangiert er nur knapp hinter Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Es ist ein Phänomen: Alle Politiker in der Top 10 haben wichtige Posten, Kanzlerin, Minister, Partei- oder Fraktionschefs. Özdemir ist der einzige ohne Spitzenposten.

Die neuen Grünen-Chefs sind nicht in den Top 10

Die Menschen halten ihn weiterhin für wichtig, auch wenn er gar nicht mehr Parteichef ist, und sie finden ihn weiterhin gut. Und: Er ist der einzige Grüne in der Top 10. Die Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter sowie die neuen Parteichefs Annalena Baerbock und

sind in dem Ranking nicht vertreten. Falls Özdemir das Genugtuung verschafft, zeigt er es nicht.

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    Er freut sich einfach über seine Umfragewerte. „Irgendwann habe ich mir mal gesagt: Bevor ich abtrete aus der Politik, will ich in dieser Top 10 der beliebtesten Politiker einen Namen wie meinen sehen“, sagt er. „Also einen Namen, der nicht Hans, Klaus oder Eberhardt lautet, sondern so einen, bei dem der Migrationshintergrund klar abzulesen ist.“ Dass er als Kind türkischer Eltern aus der Arbeiterschicht in den Umfragen eher weiter vorn genannt werde, dafür sei er sehr dankbar. „Vielleicht ist das eine Motivation für andere Menschen mit Migrationshintergrund, sich für unsere Gesellschaft zu engagieren.“

    Seine Rede gegen die AfD im Bundestag halt nach

    Özdemir hat es geschafft, im Gespräch zu bleiben. Die Medien fragen immer noch nach seiner Meinung, aktuell vor allem zu den Themen Türkei, Erdogan, Integration und Mesut Özil. Manfred Güllner, Chef des Umfrage-Instituts Forsa, führt Özdemirs Beliebtheit darauf zurück, „dass er die entscheidende Figur der Grünen im Wahlkampf und in den Jamaika-Sondierungen war“. Das halte noch an. „Seine AfD-Rede im Bundestag hat seine Werte noch einmal stabilisiert.“

    Im Februar hat Özdemir der AfD entgegengeschleudert: „Sie wollen bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht. Wie kann jemand, der Deutschland, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet, wie Sie es tun, darüber bestimmen, wer Deutscher ist?“ Er komme aus Bad Urach, das sei seine schwäbische Heimat. „Und die lasse ich mir von Ihnen nicht kaputt machen.“ Die Rede wurde ein Erfolg im Netz.

    Bei den Grünen dreht sich alles um Baerbock/Habeck

    Özdemir ist sofort im Kampfmodus, wenn er auf diese Rede angesprochen wird. Er habe da einen wunden Punkt getroffen, sagt er. Die Loyalität der AfD-Abgeordneten gelte nicht unserer Demokratie, „sie hegen Sympathien für autoritäre Machthaber wie Russlands Präsident Wladimir Putin“. Er habe bei den AfD-Wählern Zweifel säen wollen. Seit dieser Rede hat Özdemir nur noch einmal im Bundestag gesprochen. Es ist nicht gerade so, dass die Fraktionsführung ihren populärsten Politiker ins Rampenlicht schiebt. Doch Göring-Eckardt und Hofreiter haben es selbst gerade nicht leicht.

    Im Grünen-Kosmos dreht sich aktuell alles um das neue Spitzenduo Baerbock/Habeck. Die beiden Realos betonen soziale Themen, viele Grüne reden von Aufbruch, das alles kommt bei den Wählern an: In den meisten Umfragen steht die Ökopartei gut da – bei 13 bis 15 Prozent. Özdemir lobt seine Nachfolger, so wie jeder Grüne, mit dem man über das neue Duo spricht.

    Bierzelt-Wahlkampf in Bayern kann er sich vorstellen

    Die Frage ist nun: Was wird aus Özdemir? Seine Popularität spricht für ihn – doch ob die Grünen ihn noch mal in der ersten Reihe sehen wollen? Özdemir sei noch hungrig, heißt es in der Partei. Aber Fraktionschef wird er wohl nicht, sagen Parteilinke. Die sehen ihn vor allem als Teil der Baden-Württemberg-Connection. Der Vorwurf: Die Südwest-Realos wollen die Grünen zu einer Art FDP mit Umweltgewissen formen. Aber auch im linken Lager gibt es Stimmen, die sich Özdemir nach der nächsten Wahl als Bundesminister vorstellen können.

    Und dann ist da ja auch noch seine Heimat. Doch dort wird der Posten des Ministerpräsidenten wohl nicht so schnell frei, Winfried Kretschmann (70) wird bei der Wahl 2021 wahrscheinlich noch einmal antreten. Einrosten wird Özdemir auf jeden Fall nicht – etwas Wahlkampf will er sich dieses Jahr doch noch geben. Die Grünen in Bayern und Hessen, wo im Oktober gewählt wird, haben ihn angefragt. Özdemir sagt, er freue sich darauf, „wieder in prall gefüllten Festzelten zu sprechen“.